Farewell Michael Burawoy
*15. Juni 1947 † 3. Februar 2025
Es ist lange her, aber ich erinnere mich, wie ich im Studium mit roten Ohren Michael Burawoys „Manufacturing Consent“ gelesen habe und wie mich das Buch getröstet und mir geholfen hat, mit der Studiensituation umzugehen. Burawoy zeigt empirisch, dass das Management die Produktionsprozesse nicht einseitig strukturiert, wie dies in der herkömmlichen Managementliteratur behauptet wird und wie es auch marxistische Kritiker derselben — etwa Harry Braverman — angenommen haben, sondern dass solche Prozesse als wechselseitige Machtspiele von Management und Arbeit verstanden werden müssen. Es war jedoch nur teilweise das Ergebnis der Untersuchung, das mich elektrisierte, sondern vielmehr die Tatsache, dass eine solche Forschung überhaupt möglich war. Das Gefühl von damals ist mir immer noch gegenwärtig: Sozialwissenschaften zu studieren ist also doch sinnvoll, wenn man damit zu einer solchen Forschung befähigt wird. Dabei war es weniger Burawoys marxistische Perspektive, sondern dass er in „Manufacturing Consent“ eine kritische Managementforschung betrieb. Er beschrieb Managementhandeln nicht eindimensional, sondern untersuchte, auf welche Weise Belegschaften darauf reagieren und den Prozess beeinflussen können. Hinzu kam: Burawoy gab sich nicht damit zufrieden, Fallstudien zu entwickeln, sondern suchte immer nach Wegen, die Ergebnisse zu verallgemeinern. Dazu entwickelte er später die Extended Case Study. Seit Manufacturing Consent hing ich Burawoy also voyeuristisch am Farbband.
Forschung als gelebte Erfahrung: Burawoys unkonventioneller Zugang zum Feld
Michael Burawoys Leben unterscheidet sich von dem eines gewöhnlichen Hochschullehrers insofern, als er immer wieder Möglichkeiten ergriff, um aus der akademischen Welt auszubrechen, um empirisch zu forschen. Nicht, wie das gewöhnlich geschieht, indem man sich den Feldzugang erschließt und dann über Interviews und Beobachtungen empirisches Material sammelt. Burawoy arbeitete selbst. Er übernahm Jobs in sambischen Kupferminen, in polnischen, ungarischen und russischen Betrieben zur Zeit der großen Transformation. Auf dieser Ebene sammelte er Daten und ordnete sie nach Feierabend. Und es konnte vorkommen, dass er lächelnd darauf hinwies, dass die Forschungsfinanzierung so gesehen kein Problem sei, denn für die Arbeit werde man ja bezahlt.
Durban 2006: Ein öffentlicher Soziologe auf der Weltbühne
Im Sommer 2006 traf ich Michael Burawoy auf dem Kongress der Internationalen Soziologischen Assoziation (ISA) in Durban zum ersten Mal persönlich. Ein Kongress, der schwer in Gang kam: Der Eröffnungsabend startete mit erheblicher Verspätung — die Organisatoren hatten den Andrang vollkommen unterschätzt — und bot anfangs ziemlich langweilige, positivistisch grundierte Soziologie. Das änderte sich allmählich, nicht zuletzt dank der Präsenz von Burawoy. Er war als ausgewiesener öffentlicher Soziologe angereist und versuchte der Kommodifizierung der Soziologie den gesellschaftlichen Auftrag derselben entgegenzusetzen. Öffentliche Soziologie, wie Burawoy sie verstand, begnügt sich nicht damit, für bestimmte gesellschaftliche Gruppen affirmatives Wissen zu erzeugen oder sich vornehmlich mit Binnendiskursen zu beschäftigen. Stattdessen schafft sie eine kritische und reflexive Wissensbasis. Außerdem wendet sie sich nicht in erster Linie an ein akademisches Publikum, sondern stellt dieses Wissen einer breiten, nicht-akademischen Öffentlichkeit zur Verfügung. Kurz, öffentliche Soziologie beschränkt sich nicht darauf, die Welt zu begreifen, sondern will dazu beitragen, diese zu verändern.
Mit seiner Position rannte Burawoy auf dem Kongress nicht gerade offene Türen ein. Es war förmlich mit Händen zu greifen, wie wichtige Akteure auf Abstand gingen und die Fragestellung, welche Aufgabe Soziologie denn nun habe, mit Phrasen übergingen. Michael Burawoy konnte souverän damit umgehen. Als während des Abschlussplenums das Mikrofon versagte, ironisierte er die Hinweise, dass man ihn nicht verstehen könne, mit der Bemerkung: „Könnte es sein, dass Sie an dem, was ich zu sagen habe, Interesse haben?“
Vorbildlich erschien mir auch, wie kollegial Burawoy sich verhielt, als er in einer Session ein Projekt vorstellte, das er mit Schülern erarbeitet hatte. Er ließ seine Schülerinnen und Schüler in den Vordergrund treten, moderierte jeden Vortragenden persönlich an und behandelte sie selbstverständlich als gleichwertige Akteure — das war mir in der akademischen Welt, die stark von Seniorität geprägt ist, noch nicht begegnet.
Genf 2011: der Arabische Frühling und ein Soziologe mit Weitblick
Fünf Jahre später war Burawoy Präsident der ISA und nahm als solcher an der Tagung der europäischen soziologischen Assoziation in Genf 2011 teil. Die Konferenz war stark geprägt von Eindruck des Arabischen Frühlings. Sozialwissenschaftler aus Ägypten legten bemerkenswerte Forschungen zu den Motiven der Träger der Bewegungen vor. Selten habe ich erlebt, wie das Auditorium in einem so großen Hörsaal kaum zu atmen wagte, um ja den Fluss der Argumentation nicht zu stören.
Doch dann die Irritation: Die Organisatoren der Konferenz waren im Vorfeld auf die Idee gekommen, die Veranstaltungen produktiv von Aktionskünstlern ‚stören‘ zu lassen und genau das passierte nun in dem Moment der höchsten Konzentration. Zwei Künstler betraten die Bühne und begannen ihre Performance. Das Publikum fühlte sich nicht nur gestört, sondern reagierte ausgesprochen aggressiv.
Burawoy stand auf, nahm die Aktionskünstler bei der Hand und schaffte es in wenigen Sekunden, sie zu bewegen, die Performance zu verschieben. Der Vortrag wurde fortgesetzt und blieb spannend. Burawoy gelang es zudem, eine Synthese des Abends prägnant zu formulieren. Und er ließ sich nicht — was möglich gewesen wäre — vom Aufbruch des Arabischen Frühlings mitreißen. So stellte er als öffentlicher Soziologe die entscheidende Frage, was dort wohl als Nächstes passieren werde und welche Gruppen dort an die Macht gelangen könnten. Seine Prognose: Im besten Fall kämen Gruppierungen ans Ruder, welche die Politikmuster der türkischen AKP kopieren und neoliberale Politiken verfolgen würden. Seine Einschätzung mochte schwer erträglich sein. Als wahr hat sie sich dennoch erwiesen.
Ein Soziologe, der bleibt
Als Michael Burawoy begann, sich intensiv mit Karl Polanyi zu befassen und versuchte, marxistische Theorie mit Polanyi zu verbinden, wurde er für mich vollends zur Pflichtlektüre. Gleiches gilt für sein Buch „Conversations with Bourdieu. The ohannisburg Moment“, in welchem er Bourdieu mit den Ansätzen Antonio Gramscis, Frantz Fanons, Simone de Beauvoirs und anderen konfrontiert. In der Auseinandersetzung mit Polanyi untersucht Burawoy die dritte Welle der Vermarktlichung – die beiden ersten Wellen hat Polanyi in seiner Großen Transformation beschrieben. Er tradiert aber nicht einfach Polanyis Kommodifizierungsbegriffe, sondern bemüht sich, zu verstehen, was nach Natur, Arbeit und Kapital (Geld) nun kommodifiziert wird und ob eine zivilgesellschaftliche Gegenbewegung dieser dritten Welle Einhalt gebieten kann.
Seine Arbeiten zum Verständnis der öffentlichen Universität als realer Utopie gaben mir Orientierung in meiner Zeit als Rektor der Hochschule Biberach. In meinen Artikel zu den Schwierigkeiten der Entgrenzung von Hochschulen (Sozialimpulse Heft 4/2024) floss seine Typologie der Universität ein. Mehrfach habe ich versucht, Burawoys Extended Case Method auch Doktorandinnen und Doktoranden nahe zu bringen — und bin immer ein wenig enttäuscht, wenn sie darauf nicht enthusiastisch reagieren, weil ihnen das Unterfangen zu aufwendig erscheint. Überhaupt ist festzustellen, dass Burawoys Schriften im deutschsprachigen Raum nicht in dem Maße rezipiert werden, wie es ihnen zukommt; die öffentliche Soziologie hat ebenfalls bislang nicht in ausreichendem Maße Wirksamkeit erlangt — aber das kann sich ändern.
Am 3. Februar wurde Michael Burawoy beim Überqueren einer Straße auf dem Zebrastreifen von einem SUV erfasst, über 20 Meter durch die Luft geschleudert und tödlich verletzt. Der Fahrer des Fahrzeugs beging Fahrerflucht.