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Dreigliederung als Weg zu einem neuen Politikverständnis

Sind allgemeinpolitisches Engagement und konkrete Initiative Gegensätze? – Wie wirkt "man" als Dreigliederer in der Politik?

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Vom 28.-31. Mai fand im Gustav-Stresemann-Institut in Bonn im Rahmen der Fortbildungsreihe "Individualität und soziale Verantwortung" mit ca. 130 Teilnehmern ein Seminar "Dreigliederung des sozialen Organismus und Politik" statt (wir hatten diese Veranstaltung im letzten Rundbrief angekündigt). Daran waren auch eine Reihe professioneller Parteipolitiker beteiligt. Man kann sicher sagen, daß das Seminar in Bezug auf das komplizierte Thema mehr Klarheit gebracht hat. Es machte Möglichkeiten, aber auch die Schwierigkeiten eines Dialogs mit der Politik deutlich. Angesichts der Überlastungsproblematik heutiger Politik war eine gewisse Bereitschaft bei den beteiligten Politikern zu konstatieren, über neue Grenzziehungen für den staatlichen Bereich nachzudenken. Friedbert Pflüger (CDU) sprach von "Subsidiarität", Heinrich Thiemann (SPD) von der notwendigen Verschlankung des Staates", Henry Selzer (Die Grünen) von partizipatorischer Demokratie, Jörg van Essen (FDP) von einem "Sowenig Staat wie möglich", Peter Glotz von einer "neuen Entscheidungsteilung". Zugleich taten sich viele Beteiligte schwer, aus dem traditionellen Politikverständnis wirklich auszubrechen und konsequent für die Öffnung von Selbstverwaltungs- und Selbstgestaltungsräumen zu plädieren. (Das Referat von P. Glotz wird übrigens in einem demnächst erscheinenden Sammelband "Die ratlosen Eliten" nachzulesen sein.) Bei dem folgenden Beitraghandelt es sich um einen - für den Druck gekürzten und geringfügig überarbeiteten Vortrag von C. Strawe, der bei dem Seminar gehalten wurde. Es ist daran gedacht, in kommenden Rundbrief-Nummern weitere Beiträge zu veröffentlichen - ob als Konzentrat oder in voller Länge, ist noch offen.

Das Problem

Wir leben in einer Zeit der Auflösung alter Gemeinschaftsformen. Altes, was nicht verschwinden will, wirkt heute nur noch gespensterhaft oder dämonisch. Aber das Neue – soziale Gestaltung aus der Kraft der einzelnen, mündig gewordenen Individualität heraus – entwickelt sich nur zaghaft, wird immer wieder überlagert von diesem Alten.

Moderne Politik und Demokratie sind untrennbar. Die demokratische Bewegung war die Form, in welcher der Mündigkeitsanspruch des modernen Menschen in Erscheinung trat und weiter in Erscheinung tritt. In der emanzipatorischen Bewegung der späteren 60er Jahre entstand die Forderung nach einer Demokratisierung aller Lebensbereiche. Sie war eng verbunden mit dem Motiv der Politisierung. In Wahrheit sei alles politisch; die Meinung, es gebe Reservate des Unpolitischen, sei ein Versuch der Verschleierung und diene nur der Politik der Herrschenden, die politisches Engagement der Bevölkerung verhindern wollten. Der Einsatz gegen die Herrschaft weniger war damals ohne Zweifel richtig. Richtig war die Einsicht: "Wer nicht politisch denkt und handelt, für den wird politisch gedacht und gehandelt." Doch wenn man damals beispielsweise sagte, die Lehrinhalte an der Schule seien zu "demokratisieren", dann verkannte man, daß es in der Kultur gerade nicht um die Ersetzung der Herrschaft einzelner durch die des Volkes, und das heißt der Mehrheit, sondern um herrschaftsfreie Räume überhaupt geht, Räume, in denen auch Mehrheiten nicht über den einzelnen zu befinden haben. So blieben die Formeln der späten 60er und frühen 70er Jahre höchst einseitig.

Soziale Erneuerung bedeutet die Selbstverwaltung und Selbstgestaltung des Kultur- und Wirtschaftslebens durch die Betroffenen. Der Bereich der Mehrheitsentscheidungen reduziert sich auf das öffentliche Rechtsleben, soweit genereller Regelungsbedarf aus der Sache heraus vorliegt. Und nur in diesem Bereich des Öffentlich-Rechtlich-Staatlichen hat die Politik ihren legitimen Ort. So betrachtet ist die soziale Frage in keiner Weise als eine rein politische zu begreifen, im Gegenteil, das Ausufern des Politik-Begriffs über seine Grenzen ist eine Gefahr für soziale Erneuerung, welche sich primär als eine Frage konkreter Initiative und Zusammenarbeit erweist.

So betrachtet scheinen Politik und Initiative feindliche Gegensätze: Entweder man wirkt in legitimer Weise für das Neue: indem man Initiativen ergreift und z.B. soziale Einrichtungen neuen Typs schafft bzw. betreibt, – oder man versucht, das sozial Neue durch politische Mehrheiten durchzusetzen - was dann zugleich impliziert, daß die Minderheit zu ihrem Glücke gezwungen werden soll.

Ist Dreigliederung des sozialen Organismus Politik?

Aber besteht wirklich eine so simple Alternative? R. Steiner argumentierte seiner Zeit sehr viel differenzierter. In einem Vortrag "Ist Dreigliederung des sozialen Organismus Politik?"1 aus dem Jahre 1920 setzt er sich mit dem Vorwurf auseinander, durch das Dreigliederungs-Engagement beschäftige sich die Anthroposophische Gesellschaft mit Politik. Das Ungute und Unangebrachte eines solchen Engagements könne man an der katholischen Kirche studieren. R. Steiner charakterisiert diesen Einwand als ein Vorurteil, so sachgerecht wie die Übertragung eines Urteils über einen Schuh auf einen Handschuh: "Worauf geht denn die 'Dreigliederung' ursprünglich hinaus? Sie geht darauf hinaus, in der sozialen Ordnung eine reine Gliederung zu schaffen zwischen dem Geistesleben, das seine eigene Verwaltung haben soll, dem Rechts- und Staatsleben, das in der Mitte stehen soll zwischen den drei Gebieten mit seiner vollen Selbständigkeit, und dem wirtschaftlichen Leben, das als drittes Glied reinlich von den beiden anderen abgeschieden sein soll."

"Nun denken wir einmal nicht oberflächlich, wie jener denkt, der da sagt, Anthroposophie habe sich nicht mit Politik zu beschäftigen, sondern denken wir einmal die Sache wirklich objektiv klar durch: Was wird denn durch eine solche reinliche Scheidung angestrebt? – Nun das Geistesleben soll ja selbständig dastehen, das Geistesleben soll sich auf seinem eigenen Grund und Boden entwickeln, das Geistesleben soll nur dasjenige zur Geltung bringen, was aus seinen eigenen Impulsen kommt. Es wird also angestrebt, daß das Geistesleben nicht mehr abhängt vom Staatsleben und nicht mehr abhängt vom Wirtschaftsleben, sondern gerade frei und unabhängig sein kann, wie es die katholische Kirche niemals war, die sich immer mit dem Staat und dem Wirtschaftsleben zusammen konfundiert hat. [...] Denken Sie einmal, wie frivol, wie oberflächlich es ist, wenn jemand sagt, Anthroposophie solle sich nicht auf das Gebiet des Politischen versteigen. während sie gerade fordert, daß eine solche soziale Ordnung geschaffen werden soll, durch die das möglich ist, daß sich das Geistesleben nicht mehr mit Politik befasse. Es ja gerade eine Politik geschaffen worden, durch die das Geistesleben seine eigene Verwaltung, seine eigene innere Organisation hat. Und nicht mehr soll es nötig sein, daß man, wenn man eine Schule gründen will, oder einen Lehrplan ausarbeiten will, sich an die politischen Behörden oder an den staatlichen Lehrplan zu wenden hat; denn dadurch wird man ja gerade abhängig von der Politik."2

Wenn man genau hinhört, klingt in dieser Darstellung leise ein neuer Politik-Begriff an: Politik als Kunst der weisen Beschränkung des Politischen auf seinen legitimen Bereich. Von der Sache her ist ein simples Entweder-Oder ("Konkrete Initiative hie – allgemeinpolitisches Engagement dort") in der Tat unmöglich. Denn Initiative und Zusammenarbeit findet in einem konkreten Umfeld statt, ihre Möglichkeiten und Grenzen hängen von der Rechtsordnung ab. Diese enthält zwar immer auch Elemente des Gewohnheitsrechtlichen, stets ist aber auch von wesentlicher Bedeutung, welches geltende Recht durch die Gesetzgebungen definiert ist. In den allgemeinen Menschenrechten billigen wir dem einzelnen die Freiheit der Initiative prinzipiell zu, zugleich regeln wir im Detail vieles so, daß sich das Recht auf Initiative auf das Recht reduziert, um Mehrheiten für die eigene Auffassung zu werben. In den Rechtsordnungen entscheidet sich, wieweit der Konsens über die gesellschaftlichen Bereiche geht, die nicht durch Mehrheiten und damit auch nicht durch die Politik bestimmt werden dürfen. Wer Initiative entfalten will, darf die Regelung dieses Rechtsraums nicht anderen überlassen. D.h. er muß notwendig politisch denken und handeln, denn jede Einflußnahme auf die Gesetzgebungen ist der Sache nach eben "Politik".3 Jeder, der Verantwortung für selbstverwaltete Institutionen und Arbeitsfelder trägt, weiß aus unmittelbar praktischer Erfahrung, daß er mit diesem
ungeliebten Bereich der Politik notwendig in Berührung kommt, wenn er wirken will. Die Frage ist nur die nach dem "Wie" dieses Wirkens!

Darüber streiten sich bekanntlich die in "Dreigliederungsdingen" kundigen Gelehrten. Schon gegenüber der sozialen Dreigliederung als solcher gibt es unter anthroposophisch orientierten Menschen Vorbehalte, noch mehr Vorbehalte gibt es da, wo Dreigliederung und Politik etwas miteinander zu tun bekommen. Dasjenige, was Gerald Häfner den "Schauer mancher Anthroposophen vor der Politik" (weiß man's doch, sie ist ein "schmutziges
Geschäft, das den Charakter verdirbt" - und somit schwerste Hindernisse auf dem Schulungsweg schafft), ist eine Realität.4

Die Vermeinung, man könne sich für eine solche Position auf R. Steiner berufen, ist nicht nur wegen dessen bekannter Mahnung irrig, man möge nichts nur deshalb für richtig halten, weil er es gesagt habe. Sie ist auch falsch, weil R. Steiner, sehr unterschiedlich nuancierte Antworten auf die Politik-Frage gibt, die nur, wenn man sie zusammenschaut, seine Position überhaupt angemessen widerspiegeln können.

R. Steiner betont einmal, Geisteswissenschaft müsse in alle Kulturzweige eingeführt werden, darunter auch in die Politik. "Politik, ja, ja, wahrhaftig, auch dieses sonderbare Gebilde! In all das müßte eingeführt werden von denjenigen, welche die Zeit verstehen, das, was aus der Geisteswissenschaft folgt".5 Ja, er geht noch weiter: Bei dem für die Auslösung der Dreigliederungs-Volksbewgung entscheidenden Dornacher Gespräch vom 25.1.1919, führt er gegen Einwände von Emil Molt, Roman Boos und Hans Kühn aus: "Die Anthroposophische Gesellschaft kann sich ruhig mit Politik befassen. Ich rede ja auch immer von Politik." Auf den Einwand, nur das einzelne Mitglied, nicht die Gesellschaft könne sich mit Politik befassen, antwortet er: "Warum nicht?" Kühn: "Könnte sich die Gesellschaft als Partei betätigen?" Steiner: "Sie ist kein Verein, nur eine Gesellschaft. Der Einzelne hat volle Freiheit. Man braucht für eine Partei nicht diesen Namen zu wählen. Es müssen auch Nicht-Anthroposophen als Angehörige aufgenommen werden."6
Auf die Frage, was hier "Partei" heißen mag, komme ich noch zurück. Bei einem Studienabend des Bundes für Dreigliederung des sozialen Organismus am 20.3. 1920 in Stuttgart führt er aus: "Das Richtige wäre - im Sinne der Dreigliederung konsequent gedacht - an den Wahlen sich zu beteiligen, soviele wählen zu lassen, als gewählt werden können, ins Parlament einzutreten und Obstruktion zu betreiben bei allen Fragen, die sich auf Geistesleben und Wirtschaftsleben beziehen."7 Auf die Frage, was hier "Obstruktion" heißen mag, komme ich ebenfalls zurück.

Parteien als "Sammelbecken"

Alldem steht gegenüber der Satz, auf den man sich immer wieder beruft: "Die (Anthroposophische, CS) Gesellschaft lehnt jedes sektiererische Bestreben ab. Die Politik betrachtet sie nicht als in ihren Aufgaben liegend".8 Und R. Steiner kommentiert diesen Satz bei der Verlesung der Statuten auf der Weihnachtstagung mit den folgenden Worten: "Diesen Satz brauchen wir, weil zahlreiche Mißverständnisse aus allerdings nicht klarem Verhalten vieler unserer Mitglieder während der Dreigliederungszeit entstanden sind. Anthroposophie ist vielfach zu dem Ansehen gekommen, als ob sie sich in die politischen Angelegenheiten der Welt hineinmischen wollte - was sie nie getan hat, nie tun kann - dadurch, daß die Dreigliederungsidee von unseren Freunden vielfach an die politischen Parteien herangebracht worden ist, was von vorneherein ein Fehler bei diesen Freunden war."9

Worin bestand dieser Fehler? Doch offensichtlich nicht darin, daß die "Freunde" das Dreigliederungsthema in die politische Debatte einzuführen versuchten! Sondern darin, daß der Dreigliederungsgedanke programmatisch-sozialtechnisch mißverstanden wurde, und von den Parteien, nicht von der konkreten Initiative der Dreigliederer auch in der Politik, eine Umsetzung erwartet wurde.

R. Steiner selbst schließt jedes Mißverständnis einer "Kontaktsperre" gegenüber den politischen Parteien aus, wenn er bei einem Diskussionsabend mit den Arbeiter- und Angestellten-Ausschüssen der Stuttgarter Großbetriebe ausführt, die Parteien hätten sich zwar überlebt: "Aber das schadet nichts; wenn sie ihre ursprüngliche Bedeutung verloren haben, dann sind sie noch Sammelbecken für die Menschen und es ist trotzdem noch gut, wenn sie
da sind, damit die Menschen eben nicht auseinanderlaufen." Wenn man wisse, "daß im politischen Leben nur etwas zu machen ist mit geschlossenen Menschenreihen, dann hat man gar kein Interesse daran, die Parteien zu zersplittern. Wir würden das Dümmste machen, wenn wir darauf ausgehen würden, die Parteien zu zersplittern und etwa gar eine neue Partei begründen wollten."10

Der Ausdruck "Partei" bei den Januar-Gesprächen ist offensichtlich unscharf: Gemeint war schon damals eine politisch wirksame Plattform für Dreigliederungsaktivitäten, eine Art "politischer Arm" der Dreigliederungsbewegung, wie er dann in Gestalt des "Bundes für Dreigliederung des sozialen Organismus" tatsächlich entstand. Dieser war eine zugleich politische und überparteiliche Organisation. Er wollte Menschen guten Willens "aus allen Berufen, Lebenskreisen und Parteien" vereinen, lehnte es aber ab, "auf irgendeinen Parteiboden gestellt zu werden."11

"Staatsversagen" und Probleme gegenwärtiger Politik

Das heute allgemein beklagte Versagen der Politik ist in vieler Hinsicht Wirkung, nicht Ursache. Seine strukturellen Bedingungen sind im Grunde genommen auch den Angehörigen der politischen Klasse bekannt. Mangelnde Gliederung führt zur permanenten Überforderung der Politik. Diese übernimmt Aufgaben, für die ihr die Sachkompetenz fehlen muß und provoziert durch diese Überschreitung ihrer Befugnisse zugleich unerfüllbare Wählererwartungen. Die Situation führt strukturell zu einem Defizit an Redlichkeit und zu kommerziellen Formen der Politikreklame. Der Wähler erwartet einerseits immer noch wenn nicht alles, so doch vieles nicht von der eigenen Initiative, sondern von Vater Staat, ohne diesem doch noch die Autorität zuzuerkennen, die diesem Begriff einmal einen gewissen Sinn verlieh.

Das System des funktionalen Einheitsstaats und die damit verbundene "Gemengelage" zwischen Kultur, Staat und Wirtschaft hat angesichts wachsender Komplexität gesellschaftlicher Strukturen zu jenen Steuerungsproblemen geführt, die der Berliner Politologe Martin Jänike bereits vor Jahren als "Staatsversagen" diagnostiziert hat.12 Der funktionale Einheitsstaat produziert das von seinen politischen Exponenten beklagte Syndrom fortschreitender Schwerregierbarkeit und Staatsverdrossenheit unentwegt selbst: Reglementierungssucht und Gleichmacherei wirken lähmend auf individuelle Initiative, untergraben das Prinzip der Verantwortung, verengen die Spielräume für Selbsthilfe und Selbstgestaltung und schädigen dadurch den sozialen Organismus als ganzen.

Dieses Versagen wird heute immer mehr offenkundig. Die Wahlerfolge M. Thatchers und R. Reagans beruhten teilweise auf dem Versprechen, erstarrte Strukturen aufzubrechen und der Initiative Raum zu schaffen, wobei die Wähler nicht bemerkten, daß die angebotene sozial-darwinistischen Ellbogenfreiheit nur Zerrbildern von sozialer Initiative zur Wirksamkeit verhelfen konnte. Daß ein "Paradigmenwechsel" in der Politik ansteht, ist jedenfalls nicht mehr zu vertuschen, so undeutlich die Alternativen auch noch sein mögen. "Die Sozialdemokratie ist am Ende ihrer Kunst" ist ein Artikel des liberalen Vordenkers Ralf Dahrendorf in der "Zeit" Nr. 14 vom 27.3.1992 überschrieben, wobei mit "sozialdemokratisch" ein bestimmter Politiktyp gemeint ist, der heute obsolet geworden ist. Als sozialdemokratische Parteien bezeichnet Dahrendorf etwa auch die CDU und die FDP in
Deutschland, keineswegs nur die SPD. "In der einen oder anderen Weise", so beschreibt Dahrendorf diesen Politiktyp, "enden alle sozialdemokratischen Wege beim Staat, wobei es genauer wäre zu sagen, bei schwachen Regierungen und starken Verwaltungen."

Leitlinien einer neuen Politik - Verhältnis von Politik und konkreter Initiative

Der Inhalt des Politik-Begriffs wird unterschiedlich interpretiert - abhängig vom jeweiligen politischen Standort. Spontane Übereinstimmung wird man vielleicht allenfalls hinsichtlich Max Webers Definition von der Politik als dem 'Bohren dicker Bretter mit Beharrlichkeit und Leidenschaft' erzielen. Von marxistischen Politik-Definitionen reicht ansonsten das Spektrum bis zu jener heute von "republikanischer" Seite wieder aufgewärmten Ansicht des Staatsrechtlers Carl Schmitt, der in "Freund und Feind" die wichtigsten politischen Kategorien sah (bekannt ist ja auch die Steigerungsformel: Feind - Intimfeind - Parteifreund). Zu oft noch entspricht die tatsächliche Politik solchen Rastern: R. Steiner bereits legt den Finger auf die Wunde, wenn er formuliert, Politik sei "der ins Geistige übertragene moderne Krieg". "Dieser Krieg beruht darauf, daß man die Gegner täuscht, daß man irgendwelche Situationen herbeiführt, die ihn täuschen [...]" Er fügt allerdings hinzu, Politik müsse etwas gänzlich anderes werden. "Wenn man von der Politik redet, so möchte man sagen: Es müßte danach gestrebt werden, daß die Politik in allem überwunden wird, selbst in der Politik. Wir haben nämlich im Grunde genommen erst dann eine wirkliche Politik, wenn sich alles das, was auf politischem Felde spielt, in rechtlichen Formen abspielt. Dann haben wir aber eben den Rechtsstaat."13

Eine solche neue Politik wäre nicht mehr Machtkampf, sondern Dialog. Sie wird Demokratie realisieren, gerade indem sie dem Majoritätsprinzip Grenzen setzt. Die Gemengelagen zwischen Staat, Kultur und Wirtschaft dagegen produzieren Undurchschaubarkeit, durch welche die Demokratie immer wieder in die Gefahr gerät, bloß die spanische Wand zu sein, hinter der finanzkapitalistische Kreise ihre Ausbeutungsmethoden verbergen, ein
Mittel gegen etwaige Empörung des Volkes.14 Konsequente Demokratie ist mit der Herrschaft von Minderheiten unvereinbar. R. Steiner: "Heute ist die Zeit, wo man lernen muß den Unterschied zwischen herrschen und regieren [...] Herrschen darf nur das Volk, die Regierung darf nur regieren. Das ist es, worauf es ankommt."15

Ein solcher Politikbegriff kann an das klassische Politikverständnis durchaus anschließen: Politiké bedeutet im Griechischen die Kunst der Verwaltung des Gemeinwesens (Polis). Politik hätte also ihren legitimen Ort dort, wo es um die Durchsetzung bestimmter Ziele in dem für alle Bürger verbindlichen staatlich-öffentlichen Bereich geht. Eine dreigliederungskonforme Politik hätte zugleich die Politisierung der Bereiche des Geistes- und Wirtschaftslebens, die besser durch Selbstgestaltungsformen der unmittelbar Betroffenen geordnet werden können, aktiv zu verhindern (Dies ist der Sinn von R. Steiners Wort von der "Obstruktion".) Sie wäre so betrachtet immer Politik der Selbstbegrenzung des Politischen. In dieser Aufgabe, Mehrheiten gegen das Mehrheitsprinzip am falschen Ort zu mobilisieren, liegt zugleich die Schwierigkeit und die Chance einer solchen Politik. Letztlich geht es darum, die Dreigliederung im Rechtsempfinden und Rechtsbewußtsein zu verankern, sie durch die Rechtsordnung abzusichern. Das neue Politikparadigma ist dialektisch: Einheit von Politik und "Antipolitik"(G. Konrad)16!

Dreigliederungskonforme Politik hat nicht Wahrheiten und Werte durch politische Machtmittel durchzusetzen – ein Widerspruch in sich –, sondern sich am Willensbildungsprozeß der Bürger in Bezug auf praktikable Regelungen zur Weiterentwicklung der Rechtsordnungen zu beteiligen. Eines ihrer wesentlichsten Anliegen muß es sein, Foren eines freien Dialogs und einer freien Zusammenarbeit für eine menschenwürdige Gestaltung der Rechtsordnungen über die Grenzen der politischen Lager hinweg zu fördern. Diese menschenwürdige Gestaltung beinhaltet auch die positive Ausgestaltung der Rolle des Staates als Wächter von Freiheit und Toleranz, als Schützer von Mensch und Natur gegen Ausbeutung. Im Ergreifen dieser Rolle kann der Staat zum reinen Rechtsstaat werden.

Ein solche Erneuerung der Politik aus dem Geiste der Dreigliederung des sozialen Organismus ist keine vordergründig politische Frage, sondern hängt zutiefst mit den Bedingungen der Entwicklung der Bewußtseinsseele und damit des Fortschritts der Menschheit zusammen. Durch die Befreiung des Geisteslebens von der Politik, – zu der eine neue Politik ihren Beitrag leisten kann –, "werden die individuellen menschlichen Fähigkeiten gerade auf
dem Gebiet des Geisteslebens fortwährend aufgerufen. [...] Dadurch wird das Geistesleben ganz und gar abhängig gemacht vom Menschen."17 Das Mehrheitsprinzip verwische die Schärfe des individuellen Denkens und Wollens und trage dadurch in dieses Denken und Wollen ein Luziferisches hinein: "Alles Geistesleben, das mit dem Rechtsleben verknüpft ist, trägt den luziferischen Charakter. [...] Ebenso spielen in das Wirtschaftsleben, wenn es vom Staate vergewaltigt wird, ahrimanische Elemente hinein, die werden einzig und allein dadurch beseitigt, daß das Wirtschaftsleben, wie ich hier oft betont habe, auf das Leben der Brüderlichkeit aufgebaut werde in Korporationen, Assoziationen und so weiter."18

Das irdische Geistesleben fußt auf dem durch das Tor der Geburt in die Gesellschaft einströmenden Begabungsleben der einzelnen menschliche Individuen und ist insofern Nachklang des überirdischen Geisteslebens, Brüderlichkeit und Egoismus in den realen wirtschaftlichen Beziehungen der Menschen untereinander schaffen Zukunft über den Tod hinaus.19 "Es bleibt daher einzig und allein als rein irdisch das Rechts- oder Staatsleben. Das hat weder eine Bedeutung für vorgeburtliches Leben noch für das nachtodliche Leben [...] Wir gliedern die drei Glieder aus dem Grunde, weil wir die verschiedensten Gebiete, die mit dem Übersinnlichen etwas zu tun haben, von demjenigen abtrennen müssen, was nur mit dem Sinnlichen zwischen der Geburt und dem Tode etwas zu tun hat".20 Majoritätsbeschlüsse können nur für die Erde eine Bedeutung haben. "Und in dem Augenblicke regiert der 'Fürst dieser Welt', um einen alten Ausdruck zu gebrauchen, wo man eben durch Majoritätsbeschlüsse irgendwie eine Individualität  eeinträchtigen."21

Eine solche neue Politik zu entwickeln wäre die Aufgabe Mitteleuropas. Erste Ansätze eines neuen politischen Denkens entstanden in der Goethezeit (z.B. W. von Humboldt), waren aber zu schwach und wurden durch die folgende Entwicklung ("Extirpation des deutschen Geistes zugunsten des deutschen Reiches") vollends zurückgedrängt. Der Geist der Goethe-Zeit wurde, wie Karl Heyer einmal formuliert, nicht wirklich politisch, die Politik blieb geistlos. – In der Dreigliederungszeit 1917 - 1922 entstanden wichtige Ansätze, aus denen immer noch vieles gelernt werden kann22 – aber die Kräfte eines traditionellen Politikverständnisses blieben stärker. (Hinzu kamen Schwächen der Bewegung, über die z.B. das Buch von Schmelzer Auskunft gibt.) – In der Umbruchsituation 1989 belebten sich solche Ansätze erneut (das Buch von Rolf Henrich ist hier zu erwähnen), ohne jedoch durchzudringen. – Die Entwicklung der letzten 3 Jahre zeigt, wie aktuell diese Frage eines neuen Politikverständnisses heute ist.

Darum ist es notwendig, begrifflich zu klären, wie Dreigliederer in der Politik in fruchtbarer Weise wirken können. Die Meinungen gehen – auch da, wo die politische Dimension der Dreigliederung prinzipiell bejaht wird – erheblich auseinander. So sind W. Heidt und B. Hasen-Müller der Auffassung, da den Gesetzgebungen der Primat innerhalb des sozialen Organismus zukomme, sei die Einflußnahme auf die Gesetzgebungen durch die dreistufige Volksgesetzgebung der "Kernpunkt der Kernpunkte".23 So richtig es ist, der Unterschätzung der Gesetzgebungen entgegenzutreten, so sehr muß man sich in dieser Frage vor Überspannungen hüten. Sonst landet man am Ende bei der Position, Selbstverwaltung im kleinen sei zwar lobenswert, aber letztlich ermangele sie der Legitimation durch den Souverän, das Volk. Was im Umkehrschluß ja bedeuten könne, daß der Souverän – die Mehrheit – Minderheiten diese Legitimation nicht nur gewähren, sondern auch entziehen könne, was ein Zurück hinter den in den allgemeinen Menschenrechten
erreichten Stand des Rechtsbewußtseins bedeuten würden.

Weniger Staat, mehr Demokratie

Die Forderung nach einem Mehr an Demokratie muß mit der anderen Forderung nach weniger Staat unlösbar verkoppelt werden. Für R. Steiner - und ich denke, dies ist plausibel - war die Dreigliederungsentwicklung ein Prozeß, in dem die Umgestaltung der Rechtsordnung nur einen Strang darstellt: Diese Umgestaltung kann nur in dem Maße vorankommen, wie sie sich auf eine faktische Dreigliederungsentwicklung auf den beiden anderen Feldern abstützen kann, und sie kann nur abgesichert werden in dem Maße, in dem auf dem Rechtsgebiet erkämpfte Freiräume durch konkrete Initiative auch
faktisch ausgefüllt werden. Daß Steiner die Gesetzgebungen als "die Grundlage für die Struktur der sozialen Verhältnisse"24 bezeichnet, widerspricht dem nicht. Denn aus der hervorragenden Rolle der politischen Gesetzgebung folgt keineswegs, daß diese, wie die Heidt und Hasen-Müller zu glauben scheinen, gegenüber den gesellschaftlichen Prozessen des ökonomischen und kulturellen Lebens den Primat im Sinne einer absoluten Dominanz
hat. Die These, daß die Weichen des Schicksals im sozialen Weltgeschehen primär durch die Politik, das heißt durch die Gesetzgebungen gestellt werden, ist nicht weniger einseitig als die altbekannte marxistische These vom absoluten Primat der Ökonomie! In der wirklichen Geschichte folgen die Gesetzgebungen oft genug neuen ökonomischen und kulturellen Tendenzen, deren Herausbildung sie auf der anderen Seite auch wieder fördern
oder hemmen können. Außerdem kann das Rechtsleben nicht auf die Gesetzgebungen reduziert werden. Vor der Gesetzgebung steht die Herausbildung neuer Formen des Rechtsbewußtseins, oft genug auch faktische Rechtsetzungen im menschlichen Miteinander: die Rede von der
normativen Kraft des Faktischen drückt diese Tatsache aus, ohne die es kein Heranwachsen neuer Gesellschaftsstrukturen im Schoße des Bestehenden, keine großen gesellschaftlichen Umgestaltungen gäbe.

Allianz unabhängiger Geister

Europäischer Umbruch und deutsche Einheit haben große Perspektiven eröffnet. Doch die Errungenschaften von 1989 drohen, in einer neuen Weltunordnung verspielt zu werden. Der deutschen Wiedervereinigung fehlt die geistige Mitte, diagnostiziert Otto Ulrich in einem demnächst erscheinenden Buch "Politik als Kunst". Er schreibt: "Selbstverwaltung in freier Trägerschaft ist die zu verwirklichende Politik-Option. Sie ist, verwurzelt in der weiterdrängenden Freiheitsfrage, die eigentliche Maxime der 'Neuordnung' von West und Ost. ... Damit erhält die innere Einheit Deutschlands - über Deutschland hinausweisend - einen geschichtlich weitertragenden Kern, ein geistige Mitte, welche die Stagnation gegenwärtiger politischer Ratlosigkeit überwindet." Wenn es eine Zeit gibt, in der über einen Paradigmenwechsel in der Politik nachgedacht werden muß, dann ist es die
jetzige. Gegen eine mafiöser werdende Politik ruft Dahrendorf in dem schon zitierten Artikel nach einer moralischen Offensive: "Sie wird nicht von den normalen Trägern des politischen Prozesses kommen. Vielmehr verlangt sie ein Element der bürgerlichen Unruhe, das auch sonst nötig ist, um Protektionismus und Kartellisierung aufzustören. Diese Unruhe ist die Aufgabe aller Radikalen, die die Verfassung der Freiheit lieben. Sie verlangt eine Allianz unabhängiger Geister, mehr einen liberalen Club als eine Partei." Dahrendorf denkt dabei immer noch eher an eine Transformation liberaler Parteien. Aber wäre eine solche Allianz unabhängiger Geister nicht mehr. Wäre die Stunde dieser neuen politischen Allianz nicht vor allem auch die Stunde einer neuen Dreigliederungsbewegung, die auch in der Politik ihre Stimme erhebt?

Wie halten wir es nun mit den Parteien? Pragmatisch, wie denn sonst! In den Parteien gibt es sowohl die bereits von Steiner 1919 beschriebenen "stramm in die jeweiligen Parteiprogramme eingespannten Köpfe" als auch verantwortlich denkende Menschen: Die Unzufriedenheit mit der Politik ergreift auch Teile der politischen Klasse. Politiker, die über die Logik der Parteilichkeit hinausdenken, sollten sich daher mit Gruppen in der Bevölkerung verbinden, die für eine Entlastung des Staates von ihm eigentlichen fremden Aufgaben eintreten und bereit sind, die dadurch entstehenden Räume immer neu durch Initiative zu füllen. Denn die Entwicklung wird in die Unregierbarkeit, in das Chaos führen, wenn nicht für
Kultur und Wirtschaft der Raum erweitert wird, in dem durch die Selbstgestaltung der betroffenen Bürger Freiheit und Solidarität leben können. Für den Staatssektor selbst, wird das Prinzip der Mündigkeit bedeuten müssen, von einer bloßen Zuschauerdemokratie weg, hin zu einer Teilnehmerdemokratie zu kommen.

Um die Standpunktlogik des Parteilichen zu überwinden, gilt es, über alle Grenzen der Lager hinweg Koalitionen der Vernünftigen innerhalb und außerhalb der Parteien zu schmieden. Der überparteiliche Ansatz des alten Dreigliederungsbundes war in dieser Hinsicht sicherlich zukunftweisend. Strukturell bessere Bedingungen für eine solche Koalition könnten durch Modifikationen des Wahlrechts und eine Parlamentsreform entstehen, die
die Gewissensbindung des einzelnen Abgeordneten stärkt und seine Abhängigkeit von den jeweiligen Parteiapparaten mindert.

Die Frage, ob man als Dreigliederer in einer Partei arbeiten soll, ist, so gestellt, nicht zu beantworten, schon gar nicht natürlich die Frage, in welcher. Und eine Dreigliederungspartei wäre ein Widerspruch in sich. Respekt hat jedem zu gelten, der die Kärrnerarbeit professionellen Politikmachens auf sich nimmt und dabei trotzdem Dreigliederer bleibt, Respekt aber auch jedem, der seine individuellen Gründe hat, als Parteiloser politisch zu arbeiten. Sicher ist nur, daß man die Eigendynamik des Parteipolitischen nicht unterschätzen darf. Den Tiger reiten zu wollen, ist immer eine Illusion. Gerade weil das so ist, bedarf es einer überparteilichen Vernetzung der "Dreigliederer"; gerade wer parteipolitisch wirken will, braucht das Umfeld, das verhindert, das die Tagespolitik ihn "verschluckt".

Wie können Dreigliederer in der Politik wirken?

Die Frage des politischen Wirkens ist glücklicherweise keine rein theoretische: Es gibt durchaus bereits kleine praktische Ansätze. Ich möchte verschiedene Aspekte, die dieses Wirken annehmen kann, mehr aufzählend charakterisieren. Für alle diese Aspekte gilt, daß das politische Wirken umso glaubwürdiger und erfolgreicher sein wird, je mehr abgehobene Kampagnen und abstrakt-allgemeine Forderungen vermieden werden und verdeulicht wird, daß es um den rechtlichen Lebensraum konkreter fruchtbarer Initiativen geht.

1. Teilnahme an der politisch-sozialen Ideenbildung. Hier befinden wir uns eigentlich noch im Vorfeld der Politik, im Geistesleben, am Quellpunkt aller Bewegung auch in der Politik. - In diesem Bereich geht es erstens - dies ist die unabdingbare Voraussetzung, wenn nicht alles Wirken zum Aktionismus verkommen soll - um konkrete sozialwissenschaftliche Forschungsarbeit an Sachfragen. Hier ist manches geleistet worden (Bodenrecht, Gesundheitsökonomie, Schulverfassung, Geldordnung, Steuerrecht etc. etc.), mehr bleibt noch zu tun. Wird dies nicht geleistet, könnte jener Alptraum H.G. Schweppenhäusers Wirklichkeit werden, in welchem ratlose Politiker auf ebenso ratlose Berater in Sachen Dreigliederung treffen.

2. Information, Kommunikation, Beratung, die Art und Weise wie man politische Ideen ins Gespräch bringt. (Auch hier sind wir noch im Vorfeld des Politischen, im "Stützbereich" des Geisteslebens, wie Heinz Kloss formulierte.) (Daß hier auch neue Formen im Sinne einer politischen "Ästhetik" gefunden werden müssen, machte bei dem Bonner Seminar Otto Ulrich im Rahmen einer Podiumsdiskussion deutlich.) Zu diesem Komplex gehören auch Initiativen wie die Kampagne mit dem europäischen Dreigliederungsaufruf.

3. Unmittelbare Einflußnahme auf die Gesetzgebungen, wobei es verschiedene Ebenen gibt:

3.1. Einflußnahme auf die Verfassungsentwicklung (Grundgesetz, Länderverfassungen). Dabei handelt es nicht um einzelne Gesetze, sondern u.a. darum, wieviel überhaupt allgemein, d.h. durch Gesetze geregelt werden soll, und darum, wie Gesetze zustande kommen (hierher gehören Versuche, direkte Demokratie in Verfassungen zu verankern, Verfassungsartikel zum Schulwesen zu beeinflussen usw. Auf der immer wichtiger werdenden
europäischen Ebene ist der Versuch einiger Freunde zu erwähnen, eine europäische Kulturklausel im Vertragswerk der europäischen Gemeinschaften zu verankern.

3.2. Einflußnahme auf Verabschiedung bzw. Novellierung einzelner Gesetze. (Dies können u.a. auch Gesetze sein, die vorhandene Verfassungsbestimmungen konkretisieren und damit erst umsetzbar machen, so im Fall eines Bundesabstimmungsgesetzes.) Als Leitlinie für
einen Großteil gesetzlicher Regelungen kann hierbei das folgende gelten: Im Sinne des neuen politischen Paradigmas sind Normierungen auf jene Fälle zu begrenzen, in denen die Betroffenen keine eigene Regelung treffen. Ein Mitbestimmungsgesetz z.B. müßte eine Klausel enthalten, die es erlaubt, die allgemeine Regelung durch eine Regelung durch die Betroffenen zu substituieren. Ein solches Herangehen entspricht jenem Subsidiaritätsprinzip, auf das sich auch die politische Klasse immer wieder beruft.

Die Skala der Handlungsansätze reicht von Volksabstimmungskampagnen (wo gesetzlich möglich) bis zur individuellen Überzeugungsarbeit gegenüber einzelnen politischen Verantwortungsträgern ("Mensch um Mensch gewinnen"). Letzteres Vorgehen hat seinerzeit zu einer für die anthroposophische Medizin erträglichen Regelung im Arzneimittelgesetz geführt (wobei die Dinge heute durch die europäische Entwicklung z.T. wieder neu in Frage stehen).

3.3. Verfassungsrechtliche Überprüfung von Gesetzen (so gelang es in Baden-Württemberg, SPD, FDP und Grüne zur Klage gegen eine die Waldorfschulen benachteiligenden Privatschulgesetznovellierung beim Verfassungsgericht zu motivieren.) Daß hier gewisse Erfolge möglich sind, zeigt z.B. das Finanzhilfeurteil des BVG zur Finanzierung der freien Schulen von 1987. In der Praxis wird es sich häufig um eine Kombination verschiedener Elemente des Vorgehens handeln: die Universalmethode (man studiere nur einmal unter diesem Aspekt die Arbeitsformen der Bewegung von 1919!)
gibt es nicht.

3.4. Beeinflussung von Verordnungen bzw. der Handhabung bestehender Gesetze (hierher gehören z.B. die Bemühungen um eine günstige Regelung der steuerlichen Absetzbarkeit von Elternbeiträgen für freie Schulen, um Chancengerechtigkeit bei der Bezuschussung von Einrichtungen in freier Trägerschaft usw.) Adressat ist hier vor allem die Bürokratie, die Politik kommt insoweit in Betracht, als über sie Druck auf die Bürokratie erzeugt
werden kann). Über die bisherigen Formen des Verhandelns hinter verschlossenen Türen hinaus (eine nebenbei gesagt durchaus legitime Form) entdeckt man immer mehr die Notwendigkeit öffentlichen Auftretens (Veranstaltungen mit Politikern, Pressekonferenzen, Tage der offenen Tür usw.). Auch hier ist oft eine Kombination verschiedener Elemente sinnvoll. In diesen Komplex fallen z.B. auch Initiativen wie die Erbbaurechtskampagne des Seminars für freiheitliche Ordnung, die pragmatisch am bestehenden Recht ansetzt und dessen Anwendung in einer bestimmten günstigen Richtung fördert.
3.5. Das Gesagte ließe sich noch für verschiedene Politikfelder weiterentwickeln (Landwirtschaftspolitik, Bildungspolitik und vieles andere mehr). Ebenso könnte noch das politische Wirken im Hinblick auf die verschiedene Ebenen - sozusagen von der Kommune bis zur UNO - betrachtet werden. Doch muß an dieser Stelle das Gesagte genügen.

Ein einzelner hilft wenig...

Entscheidende Frage bleibt die nach den Formen der Zusammenarbeit. Ein einzelner, so der Alte mit der Lampe in Goethes Märchen, hilft wenig, entscheidend ist, daß man sich mit vielen anderen zur rechten Zeit zusammentut. Weiterzuentwickeln wären mindestens die folgenden Formen:

  • Ein Netzwerk der arbeitenden Gruppen auf dem Feld der sozialen Dreigliederung. Ein allererster Schritt wurde mit der Bildung der Initiative "Netzwerk Dreigliederung" getan.
  • Verstärkung der Dreigliederungsarbeit der Einrichtungen auf bestimmten sachlichen Feldern (Landwirtschaft, Pharmazie, Medizin u.a.).
  • Dialogforen: Ein Beispiel ist das Europäische Forum für Freiheit im Bildungswesen (E/F/F/E), das inzwischen den Status einer nichtstaatlichen Organisation (NGO) bei der KSZE erreicht hat. Auch die Arbeit des Anthroposophischen Gesprächsforums Bonn ist hier zu erwähnen.

Erfolgsgarantien gibt es nicht. Aber das Menschenmögliche muß versucht werden. Von substantieller Bedeutung ist es, nicht um der Wirksamkeit willen die Qualität sozialer Dreigliederung preiszugeben. (Es ist Ahriman, der nicht Wahrheit, nur Effekt und Erfolg kennt.) Von ihrem Charakter her müssen praktische Vorschläge im Sinne der sozialen Dreigliederung auf mehr abzielen, als darauf, den Bewegungsspielraum der eigenen Einrichtungen zu vergrößern. Alles hängt ab von der Ehrlichkeit und Ernsthaftigkeit, mit der Lösungen im Interesse aller Menschen gesucht werden. (Das Aufgreifen der Frage des §218 durch Dreigliederer ist vielleicht gerade deshalb so wichtig, weil hier kein vordergründiges "Interesse" vorlag. Daß die traditionelle Politik am Ende ihrer Kunst ist, wie Dahrendorf formuliert, ist Aufforderung zur Entwicklung einer neuen Kunst der Politik.

Fußnoten

1 Ist die "Dreigliederung des sozialen Organismus" Politik? - geisteswissenschaftlich beantwortet. Vortrag Dornach, 31. Januar 1920. In Geistige und soziale Wandlungen in der Menschheitsentwicklung. GA 196, Dornach 1966, S.120ff.

2 Ibd., S. 122f.

3 Nicht umsonst scheiterte die "syndikalistische" Richtung in der Arbeiterbewegung (verbreitet vor allem in Frankreich, Südamerika und Spanien), welche die Auseinandersetzung auf politischem und parlamentarischem Feld nicht führen wollte und allein auf die direkte Aktion im Einzelbetrieb setzte an ihrer Unterschätzung des Politischen.

4 Vgl. Häfner. In: Flensburger Hefte, 24, a.a.O.

5 Die Polarität von Dauer und Entwickelung im Menschenleben, Vortrag 6.10.1918, Gesamtausgabe 184, Dornach 1968, S. 256.

6 Unveröff. Protokoll, Archiv der R.Steiner-Nachlaßverwaltung. Zit. in W. Heidt, B. Hasen-Müller, "Der Kernpunkt der 'Kernpunkte'", Achberg 1989.

7 Protokoll, Goetheanum-Archiv. Zit. bei Heidt, a.a.O.

8 Die Weihnachtstagung zur Begründung der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft. 1923 - 1924. Grundsteinlegung, Vorträge und Ansprachen, Statutenberatung. GA 260, Dornach 1963.

9 Ibd. S. 45.

10 Zit. nach: Walter Kugler, Rudolf Steiner und die Anthroposophie, Köln 1978, S. 207.

11 Nach Kugler, a.a.O. S. 198.

12 Vgl. Martin Jänike, Das Staatsversagen - Die Ohnmacht der Politik in der Industriegesellschaft, München 1986.

13 So in der dritten Seminarbesprechung beim "Nationalökonomischen Kurs" (2.8.1922). (Nationalökonomisches Seminar, Gesamtausgabe 341, Dornach 1973, S. 41f.) Dieses Zitat wird auch von Heidt/Hasen-Müller in "Der Kernpunkt der Kernpunkte" angeführt.

14 R. Steiner zitiert des öfteren zustimmend den Franzosen F. Delaisi, von dem dieses Bild der spanischen Wand stammt. (GA 177, S. 247f.; GA 332a, S. 19.)

15 GA 188, S. 204.

16 Györgi Konrad, Antipolitik. Mitteleuropäische Meditationen. Frankfurt 1985.

17 GA 196, a.a.O., S. 125.

18 GA 196, a.a.O., S. 126.

19 "Wenn zum Beispiel eine wirtschaftliche Ordnung bloß auf Egoismus aufgebaut ist, so bedeutet das, daß die Menschen in hohem Grade Einsiedler werden zwischen dem Tod und einer neuen Geburt, daß sie die größten Schwierigkeiten haben, andere Menschenwesen zu finden [...] (GA 196, a.a.O., S.127.)

20 Ibd., 128.

21 Ibd., S. 128.

22 Vgl. meine Broschüre "Soziale Dreigliederung - Chance für eine neue Bewegung in einem sich wandelnden Europa - Was können wir aus der Dreigliederungsbewegung von 1919 für heute lernen?" (Dornach 1989). Lehrreich unter strategischen Gesichtspunkten sind z.B. die Memorandum-Initiative, die Moltke-Memoiren-Affäre, Betriebsräte- und Kulturratsinitiative, der Wechsel der Arbeitsformen in der Mitte des Jahres 1919, die oberschlesische Aktion und vieles andere mehr.

23 Vgl. die beiden Arbeitspapieren "Der Kernpunkt der 'Kernpunkte'" und "Ist's an der Zeit?" (Beide Achberg 1989).

24 Der Tod als Lebenswandlung, Vortrag 10.2.1918, Gesamtausgabe 182, Dornach 1969, S. 32.