Heilmittel im EG-Binnenmarkt
Der EG-Binnenmarkt, der Anfang 1993 in Kraft treten wird, soll sich auch auf die Arzneimittel erstrecken. Zu diesem Zweck hat die EG-Kommission eine Reihe von Richtlinienentwürfen erstellt, zu denen das EG-Parlament bereits Stellung genommen hat. Zur Zeit berät der EG-Ministerrat darüber. Die von ihm geänderten Entwürfe gehen dann noch einmal ins europäische Parlament. Mit den endgültigen Beschlüssen des Ministerrats ist im Laufe des nächsten Jahres zu rechnen.
Schon jetzt ist klar, daß der Arzneimittelbinnenmarkt Anfang 1993 nicht vollendet sein wird. Es wird dann lediglich einen Binnenmarkt für gentechnologisch hergestellte und sonstige hochinnovative schulmedizinische Arzneimittel geben. Zu diesem Zweck werden ab 1993 zentrale EG-Entscheidungen über diese Arzneimittel getroffen, und zwar von der EG-Kommission, in letzter Instanz vom EG-Ministerrat. Beide sollen diesbezüglich von einer neu zu gründenden zentralen europäischen Arzneimittelagentur wissenschaftlich beraten werden.
Für alle anderen Arzneimittel außer den homöopathischen, für die eine Sonderregelung gilt, wird von den nationalen Zulassungen ausgegangen. Von der EG wird in den Entwürfen die gegenseitige Anerkennung der Zulassungen empfohlen. So weit handelt es sich also um einen dezentralen Ansatz. Er erlaubt den Firmen im Prinzip eine schrittweise Vergrößerung ihres Marktes innerhalb der EG, und bis dahin sind die betreffenden Entwürfe gut. Für die Naturheilmittel besteht das Problem darin, daß aller Voraussicht nach in zahlreichen Fällen andere Länder Zulassungen nicht anerkennen werden. In diesen Fällen soll wie bei den hochinnovativen schulmedizinischen Präparaten zentral entschieden werden, und zwar ebenfalls durch die EG-Kommission bis hin zum Ministerrat und ebenfalls auf der Grundlage wissenschaftlicher Stellungnahmen der geplanten zentralen Arzneimittelagentur. Letztere wird nach gegenwärtigem Stand der Entwürfe rein schulmedizinisch besetzt sein. Es ist also abzusehen, daß bei den Naturheilmitteln in zahlreichen Fällen negative zentrale Entscheidungen getroffen werden. Dann braucht nach den Entwüifen nicht nur das weitere Land die Zulassung nicht abzuerkennen, sondern sie ist auch in dem ersten Land aufgehoben. Selbst wenn der zweite Staat eine Zulassung anerkennt, kann jeder weitere EG-Mitgliedstaat dagegen Einspruch erheben und damit den Fall auf EG-Ebene bringen, wo dann nach dem skizzierten Muster entschieden wird. Konkret heißt dies, daß für Naturheilmittel praktisch keine Möglichkeit besteht, sich im EG-Markt auszudehnen, da das Risiko, eine Zulassung zu verlieren, zu groß ist. Außerdem werden nach den Entwürfen ab 1993 zentrale Widerrufsentscheidungen über Arzneimittel möglich sein (insbesondere wegen Nebenwirkungen). Die EG wird dann. auch über rein nationale Arzneimittel Widerrufsentscheidungen durchführen können, d.h. hier liegt eine existentielle Gefährdung der Naturheilmittel durch die schulmedizinisch orientierte EG vor.
Eine Ausnahme bildet wie gesagt die Homöopathie. Hierfür hat die EG einen eigenen Richtlinienentwurf erstellt. Neben Zulassungen sind auch Registrierungen möglich, wie es in der Bundesrepublik bereits gehandhabt wird. Registrierungen unterscheiden sich von Zulassungen dadurch, daß kein Wirksamkeitsnachweis erbracht werden muß, dafür darf dann auch keine Indikation angegeben werden. Was die Zulassung von homöopathischen Arzneimitteln anbetrifft, so ist es den Ländern freigestellt, Anforderungen zu formulieren, die von den allgemeinen EG-Anforderungen für Zulassungen abweichen, konkret also ErIeichterungen beinhalten.
Zentrale Zulassungs- bzw. Registrierungsentscheidungen soll es für Homöopathika nicht geben. Ein Schritt zum Binnenmarkt besteht bei den Homöopathika darin, daß Mitgliedsstaaten auf eigene Maßnahmen ganz verzichten können. Sie müssen dann zugelassene bzw. registrierte Homöopathika aus allen anderen EG-Ländern in ihrem Bereich dulden, d.h. sie dürfen in den Apotheken der betreffenden Länder verkauft werden. (Vermutlich wird Holland das erste Land sein, das von dieser Möglichkeit Gebrauch macht.) Der Homöopathie-Entwurf ist damit von vornherein viel akzeptabler als die anderen Entwürfe, soweit diese für Naturheilmittel relevant sind. Um für die Naturheilmittel auf EG-Ebene angemessene Regelungen zu erreichen, wurden in den letzten drei Jahren drei Verbände gegründet. Es handelt sich um einen Patientenverband und einen Ärztedachverband, dem nationale Patienten- bzw. Ärzteverbände als Mitglieder angehören, und um einen Verband anthroposophischer Firmen. In Gründung ist zur Zeit ein EG-Firmenverband, der Hersteller aller nicht-schulmedizinischen Richtungen umfassen soll.
Mit den bestehenden Verbänden ist es insbesondere gelungen, den Homöopathie-Richtlinienentwurf zu verbessern. Was die Entwürfe für die übrigen Arzneimittel anbetrifft, so haben sich zwar das europäische Parlament und der Wirtschafts- und Sozialausschuß der EG für einen Pluralismus auf EG-Ebene ausgesprochen, es ist zur Zeit jedoch sehr unwahrscheinlich, daß eine entsprechende Regelung erzielt werden kann. Es dürfte schon schwierig sein, wenigstens eine Mindestlösung zu erreichen, etwa derart, daß negative zentrale EG-Entscheidungen nicht zur Aufhebung der Zulassung im Ursprungsland führen und daß sich die EG zentraler Widerrufsentscheidungen über Naturheilmittel enthält.
Aus anthroposophisch-sozialwissenschaftlicher Sicht haben wir es nicht primär mit einer staatlichen, sondern primär mit einer assoziativen Aufgabenstellung zu tun, nämlich mit der Gestaltung des Arzneimittelmarkts im Hinblick auf die bestmögliche Versorgung der Bevölkerung. Der Arzneimittelmarkt unterscheidet sich aber – abgesehen von bereits bestehenden, vielfältigen staatlichen Reglementierungen – von anderen Märkten vor allem in zwei Punkten.
Erstens ist die Therapierichtungsfrage zu berücksichtigen, was die EG bisher überhaupt nicht getan hat. Das bestehende EG-Richtliniensystem für die Zulassung von Arzneimitteln ist rein schulmedizinisch orientiert. Die Homöopathie war aus diesem System ausgeschlossen; alle anderen Naturheilmittel wurden wie Schulmedizin behandelt. Innerhalb der Therapierichtungen, insbesondere seitens der Schulmedizin gegenüber den anderen Richtungen, besteht ein hoher Dogmatisierungsgrad, der es erforderlich macht, nach Therapierichtungen getrennte Beurteilungen zu institutionalisieren. Die am Bundesgesundheitsamt für vier Therapierichtungen eingerichteten Kommissionen können in diesem Sinne als ein erster assoziativer Ansatz angesehen werden.
Der zweite Punkt betrifft die Wissenschaftsfrage im Zusammenhang mit der Wirksamkeitsfeststellung. Auch die naturwissenschaftlich orientierte Schulmedizin hat sehr lange gebraucht, bis sie über ein Instrumentarium verfügte, von dem sie glaubte, damit die ärztliche Beurteilung der Therapie ersetzen zu können. Es handelt sich um den sog. kontrollierten, genauer gesagt randomisierten Therapieversuch mit Patienten. Mit ihm wurde die Hoffnung verbunden, objektive und allgemeingültige Beweise für die Wirksamkeit von Therapien gewinnen zu können. Arzneimittelzulassungen sollten nach schulmedizinischer Vorstellung von der Vorlage solcher Beweise abhängig gemacht werden.
Die Hoffnung hat sich allerdings als eine Illusion erwiesen, was von unserer Seite bereits Mitte der siebziger Jahre erfolgreich im Deutschen Bundestag vertreten wurde und für die BRD zu den genannten Kommissionen geführt hat. Es gibt keine "objektiven und allgemeingültigen" Wirksamkeitsbeweise durch randomisierte Versuche, sondern mehr oder weniger problematische lokale Indizien, die bewertet werden müssen. Die Bewertung geschieht immer vor dem Hintergrund wissenschaftlicher Grundpositionen und praktischer Erfahrungen. Damit steht letztlich im Hinblick auf konkret zu treffende Entscheidungen die Erfahrung über den wissenschaftlichen Ergebnissen, während nach der EG-Konzeption die wissenschaftlichen Ergebnisse über die Erfahrungen der Betroffenen gestellt werden sollen: die Entscheidungen sollen nach der Vorstellung der EG "auf höchstem wissenschaftlichem Niveau" getroffen werden.
Davon abgesehen handelt es sich bei der Zulassung von Arzneimitteln gar nicht primär um ein wissenschaftliches Problem, sondern um ein Handlungsproblem, nämlich die Gestaltung des Arzneimittelmarktes. Wenn die Erfahrungen über die wissenschaftlichen Ergebnisse gestellt werden müssen, dann geht es darum, diese Erfahrungen zusammenzutragen, und genau dieses kann mit einem assoziativen Ansatz geleistet werden. Insofern liegt die EG mit ihrer Konzeption grundverkehrt. Indem das höchste wissenschaftliche Niveau dann auch noch schulmedizinisch gedacht wird, handelt es sich um den Herrschaftsanspruch einer bestimmten Wissenschaftsrichtung im Bereich der Versorgung der Bevölkerung, wo er nichts zu suchen hat.
Vielmehr muß die schulmedizinische Wissenschaft in assoziativen Gremien eine dienende Funktion annehmen, wie es bei den genannten Kommissionen am Bundesgesundheitsamt bereits der Fall ist. Die geplante zentrale Arzneimittelagentur müßte in diesem Sinne ein assoziatives Organ werden. Dies dürfte zwar bis zum Beginn des EG-Binnenmarktes kaum zu erreichen sein, jedoch plant die EG, da mit den Entwürfen der Arzneimittelbinnenmarkt eben nicht vollendet wird, in Zukunft weitere Richtlinien unter Berücksichtigung der bis dahin gemachten Erfahrungen. Vielleicht ist es dann möglich, mit dem assoziativen Gedanken auf EG-Ebene weiterzukommen.