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Der europäische Umbruch und seine Konsequenzen für die Ausgestaltung des europäischen Hauses

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Auf unserem Kontinent vollziehen sich dramatische Wandlungen. Es ist, als ob sich Jahrzehnte in wenige Monate zusammengedrängt hätten. Vorbereitet durch den Umbruch in der Sowjetunion erkämpfen sich die Menschen in Mittel- und Osteuropa Freiheit und Recht. Das einst in Jalta besiegelte System der Spaltung Europas hat sich historisch überlebt. Seine Symbole aus Stein und Stacheldraht verschwinden. Die Nachkriegszeit mit ihrer Ost-West-Konfrontation ist zu Ende. Jetzt könnte und müßte Europa abrüsten. Jetzt gilt es, das friedliche Zusammenleben in einem menschengerecht ausgebauten europäischen Haus zu gestalten.

In die Ermutigung des Anfangs mischt sich zunehmend Sorge, daß die Ereignisse der Gestaltbarkeit entgleiten. Die unerläßlichen "Sofortmaßnahmen" verlangen gesellschaftliche Verantwortung und individuelle Gestaltungskraft, die nicht oberflächlich bleiben dürfen.

Diese Kraft wird nicht aufgebracht werden können, wenn nicht zunächst die Besinnung erfolgt über die Ursachen, die den Zusammenbruch des Staatssozialismus herbeigeführt haben. Nur so können neue Fehlentwicklungen ausgeschlossen und die richtigen Konsequenzen für die zukünftige europäische Entwicklung gezogen werden.

Dieser Besinnung dürfen sich gerade auch die "westlichen" Gesellschaften nicht verschließen. Falsch wäre es jetzt, in Selbstgerechtigkeit und Selbstzufriedenheit zu verfallen, im Blick auf die Probleme der anderen Seite diejenigen der eigenen Gesellschaften zu verdrängen und damit zugleich die gemeinsamen Aufgaben zu ignorieren:

Unsere Welt wächst objektiv immer mehr zusammen. Der positive Domino-Effekt. der die Diktaturen zum Einsturz brachte, darf uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß in einer solchen Welt auch negative Domino-Effekte möglich werden. Die Probleme der Dritten Welt, die ökologische Bedrohung, die Gefährdung der Menschlichkeit durch
Sinnverlust, Lebensleere und soziale Kälte, können in ihrem Zusammenspiel solche Effekte hervorrufen. Wenn es nicht gelingt, soziale Strukturen zu entwickeln, die allen Menschen Lebensraum und Lebenschancen bieten und die zugleich die Zerstörung der Naturgrundlagen beenden helfen, dann kann der Freiheitsgewinn Europas durch neue Formen der Unfreiheit wieder zunichte gemacht werden.

Die für gemeinsame Entwicklungen im europäischen Haus zur Verfugung stehende Zeit ist nicht unbegrenzt: Desintegration, nationaler Hader und wirtschaftliche Schwierigkeiten gefährden im Osten das Errungene. Daraus erwachsen gewaltige Aufgaben im gesamteuropäischen Maßstab.

Die gegenwärtige Situation bietet große Chancen. Unabsehbar sind aber auch die Konsequenzen, wenn diese Chancen verspielt würden.

Konsequenzen aus dem Umbruch

Das Hauptübel des bürokratischen Sozialismus bestand in einer ideologisch begründeten Verstaatlichung ganzer Gesellschaften, im Mangel an Autonomie des einzelnen Menschen und der verschiedenen Lebenssphären der Gesellschaft. Eine moderne Gesellschaft läßt sich nicht bürokratisch aus einem Zentrum heraus steuern, wenn sie nicht
jede Innovationsfäitigkeit verlieren und die Kräfte der menschlichen Individualität unterdrücken will, auf denen doch alles moderne Gesellschaftsleben beruht.

Für dieses Hauptübel ist das Wort vom vormundschaftlichen Staat gesprägt worden. Die Antwort auf die Frage, wie das Gespenst des vormundschaftlichen Staates für alle Zukunft gebannt werden kann, ist entscheidend für die europäische Zukunftsentwicklung. Der vormundschaftliche Staat hat das soziale Leben eingeschnürt und veröden lassen. Der Versuch der zwanghaften Menschheitsbeglückung durch Ideologien und Apparate hat zum moralischen, politischen und wirtschaftlichen Niedergang geführt. So wurde der praktische Beweis erbracht, daß die Gesellschaft kein mechanisches Gebilde ist, an dem beliebige Manipulationen vorgenommen werden können, sondern daß sie sich wie ein Organismus als das lebendige Zusammenwirken unterschiedlichster Prozesse ständig neu zu bilden und zu erhalten bat. Die Unterbrechung sozialer Lebensströme durch Mauern und Stacheldraht - bildlich und real - hat im Leben der Gesellschaft schmerzhafte Wunden verursacht. Damit sie verheilen können, muß ein richtiges Empfinden für die Lebensbedingungen des sozialen Geschehens entwickelt werden.

Lebensbedingungen menschengemäßer gesellschaftlicher Entwicklung - Leitlinien einer  Neugliederung

Gesellschaftliche Lebensvorgänge dürfen nicht durch Ideologien und Programme vergewaltigt werden, sondem sind mit Bewußtsein zu durchdringen und menschengemäß zu gestalten!

Die Gestaltungsimpulse fiir das soziale Leben ergeben sich nicht aus ausgeklügelten theoretischen Prinzipien. sondern nur aus den konkreten Fähigkeiten und Bedürfnissen mündiger Menschen. Mehr oder weniger bewußt leben die Gesta!tungskräfte für das sozialen Leben in den tieferliegenden Intentionen der modernen Menschen. Sie leben dort als das auch durch Zwang und Gewalt nicht auszulöschende Streben nach individueller Freiheit, demokratischer Gleichheit und menschenwürdigen wirtschaftlichen Verhältnissen. Die Verwirklichung dieser Impulse stößt individuell und gesellschaftlich auf die Gegenkräfte der Intoleranz und Willkür, des Machtstrebens und der Gleichmacherei, des schrankenlosen Egoismus und der Profitsucht. Diese Gegenkräfte strömen immer dort ein, wo sich die Lebensverhälmisse der Überschaubarkeit entziehen und "abstrakt" werden. Wo die unmittelbare Begegnung der Menschen abnimmt, schwindet auch die Kraft der Mitmenschlichkeit.

Die Frage nach den Leitwerten sozialer Erneuerung ist letztlich die Frage nach einer Gesellschaftsform, die soviel als irgend möglich solche Kräfte der Mitmenschlichkeit entbinden hilft. Die ehemals staatssozialistischen Gesellschaften
waren geprägt durch die ideologisch legitimierte Macht des vormundschaftlichen Staates. Die west- und westmitteleuropäischen Gesellschaften weisen demgegenüber entscheidende Vorsprünge an Freiheit und Demokratie auf. Dennoch werden sie in hohem Maße gesteuert durch anonyme · gegenüber der konkreten Mitmenschlichkeit gleichgültige - Mechanismen. Die Gesellschaft der Zukunft wird immer weniger eine solche anonyme
Steuerung vertragen. Anstelle einer Verselbständigung von Macht oder Geld wird immer mehr das steuernde Prinzip auf allen Ebenen der Dialog und die konkrete Begegnung der Menschen selber werden müssen.

Eine solche durch kommunikatives Handeln geprägte dialogische und partizipatorische Gesellschaft Ist das Gegenbild der zentralistisch verstaatlichten: Sie Ist gekennzeichnet durch das Vermögen, Grenzen zwischen den einzelnen Lebenssphären so zu ziehen, daß die einzelnen Bereiche ihre jeweils besonderen Leitwerte und Gestaltungsimpulse entfalten können und vor Übergriffen aus anderen Sphären oder Eingriffen von oben geschützt sind.

Der notwendige gesellschaftliche Umbau

Durch eine konsequente Neugliederung, welche die relative Eigenständigkeit durchschaubarer Lebensbereiche sichert, kann das soziale Ganze aus dem Zusammenwirken der einzelnen, vielfältig aufeinander angewiesenen Bereiche immer wieder neu durch die Menschen selber gestaltet werden.

Die Betrachtungsweise der Gesellschaft als Gefüge funktional ausdifferenzierter Subsysteme wird in dieser oder jener Form von einer ganzen Reihe von Vertretern der modernen Sozialwissenschaft angewendet. Der Gedanke der Gliederung als solcher ist im Konzept der Gewaltenteilung (Montesquieu) bereits ansatzweise vorhanden, umfassender noch scheint er beispielsweise auf in Wilhelm von Humboldts "Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (1792). Den ersten Versuch, den Gliederungsgedanken umfassend anthropologisch zu begründen und praktisch für eine gesellschaftliche Umgestaltung wirksam zu machen, unternahm Rudolf Steiner, der Begründer der Anthropoposophie, in den Jahren 1917 - 1922 (Memoranden von 1917, Volksbewegung fiir die "Dreigliederung des sozialen Organismus" vor allem im südwestdeutschen Raum 1919).

In jüngster Zeit wurde die Dreigliederungsidee von Ralf Henrich in seinem für die Umgestaltung in der DDR wesentlichen Werk "Der vormundschaftliche Staat. Vom Versagen des real existierenden Sozialismus" vertreten. Notwendig ist ein gesellschaftlicher Umbau, der zunächst den großen Lebensbereichen der geistigen Produktion, der Rechtsordnung und der Ökonomie die Autonomie einräumt, die sie brauchen, um ihre jeweils spezifische Funktion
im gesellschaftlichen Lebensprozeß erfüllen zu können.

Diese Bereiche spielen unterschiedliche Rollen:

Die Gesellschaft als ein lebendiges Gebilde, als ein sozialer Organismus, "ernährt" sich durch die individuellen Fähigkeiten der einzelnen menschlichen Individuen, ohne deren Initiative und Tatkraft, Kreativität und Phantasie das soziale Leben veröden müßte.

Alle materielle Produktion, alle technische Innovation, aller kulturelle Reichtum und Wandel fließt letztlich aus diesem Quellpunkt geistiger Produktivität. Zu diesem "Fähigkeitsstrom" gesellt sich der Strom der materiellen Güter und Dienstleistungen, der sich letztlich aus der Bearbeitung und Nutzung der Naturressourcen ergibt.

Ein dritter Funktionskreis regelt - Ansprüche ausgleichend und die Stabilität des Ganzen sichernd -, was sich an Berechtigungen und Verpflichtungen zwischen den Menschen bildet. Die drei Lebenströme durchziehen alle Einrichtungen der Gesellschaft, sind aber jeweils in bestimmten institutionellen Bereichen dominant: In den Institutionen des Kulturlebens (Wissenschaft, Kunst, Religion, Unterricht usw.) richten sich rechtliche Ordnung
und materielle Versorgung auf die geistige Produktion als solche: auf die Entwicklung von Fähigkeiten und die Schaffung von Kultur.

In den Institutionen der Wirtschaft richten sich Fähigkeiten und Rechtsformen auf die materielle Versorgung.

Im eigentlichen Rechtsleben, dessen Kernbereich das politische Staatsleben bildet, sind Fähigkeiten und materielle Vesorgung der Gewährleistung der Rechtsordnung unterstellt.

Das gewaltsame Zusammenspannen dieser Bereiche, ihre chaotische Durchmischung, müssen zu Fehlfunktionen und Krankheitserscheinungen im gesellschaftlichen Leben führen. Ihre Entflechtung schafft durchschaubare Verhältnisse, die es dem einzelnen ermöglichen, gemäß der Art seiner jeweiligen Betroffenheit in allen Bereichen mitzusprechen und mitzuwirken. So können durch die relative Autonomisierung der Lebensbereiche der Kultur, des Staates und der
Wtrtschaft diese Bereiche durch die Menschen dialogisch gestaltet und verwaltet werden.

  • Jeweils betroffen sind im Staatsleben alle Bürger. Nur aus ihrem demokratischen Konsens heraus kann geschehen, was hier notwendig ist.
  • Die Betroffenen im Wirtschaftsleben sind die jeweiligen Verbraucher, Erzeuger bzw. Dienstleister und Händler. Was hier zu geschehen hat, kann nur aus dem sachverständigen partnerschaftlichen Zusammenwirken von Verbrauchern, Produzenten, Handel und Banken zustandekommen.
  • Jeweils betroffen sind im Kulturleben - dieses im weitesten Sinne verstanden - diejenigen, die geistige Leistungen erbringen oder in Anspruch nehmen. Nur aus voller Freiheit der Initiative heraus kann hier gehandelt werden.

Konkret ergeben sich aus diesen Leitlinien Ansatzpunkte für einen Dialog über die Gestaltung der einzeinen Lebensfelder im europäischen Haus, aus dem heraus konkrete Forderungen entwickelt und im gemeinsamen Handeln schrittweise umgesetzt werden können. Dabei wird es sich vor allem um die folgenden Forderungen handeln:

Demokratische Rechtstaatlichkeit

In einem demokratischen Europa dürfen Gesetze nichts anderes sein, als "die allgemeinverbindlichen Formen der demokratischen Übereinkünfte zwischen mündigen Bürgern". "Rechtens ist, was sich auf dem Boden solcher Gesetze vollzieht." (Zitat aus dem offenen Problemkatalog des Neuen Forum/DDR) Gewaltenteilung, rechtsstaatliche Kontrolle der Verwaltung, volle Meinungs-, Versammlungs - und Vereinigungsfreiheit, Unabhängigkeit der Gerichte sind selbstverständliche und unverzichtbare Prinzipien eines demokratischen Staatswesens.

Um dem Begriff als Rechtsstaat zu entsprechen, muß der Staat seine eigene Wirksamkeit begrenzen; er darf nicht in Kultur und Wirtschaft hineinregieren.

Seine Rolle in bezug auf diese Bereiche beschränkt sich auf die Schaffung rechtlicher Garantien: Freiheitsschutz, Schutz der Arbeit und Schutz der Natur. Staatliche Vormundschaft nicht nur in ihren extremsten Auswüchsen, sondern schon in ihren Anfängen unmöglich zu machen, das ist die lebensgemäße Schlußfolgerung aus dem Scheitern des Staatssozialismus. Notwendig ist ein Mehr an Demokratie und ein Weniger an Staat.

Das Prinzip der Allzuständigkeit des Staates ist zu beseitigen, der Staat aus dem wirtschaftlichen und kulturellen Leben herauszuflechten und deren Eigenständigkeit gesetzlich zu sichern. Den Staaten sind durch die Entwicklung in der Vergangenheit Aufgaben zugewachsen, die längerfristig besser in Eigenverantwortung der Betroffenen gelöst werden sollten.

Das heißt aber nicht, daß z.B. Staatsschulen und Staatsbetriebe vom einen auf den anderen Tag überflüssig werden. Nach wie vor wird der Staat dort tätig werden müssen, wo die Eigeninitiative fehlt. Denn solche Eigeninitiative ist nicht erzwingbar. Jedoch darf die eigenverantwortliche Lösung nie erschwert oder gar verhinden werden.

Der Rechtsraum für sie ist zu schützen und in jeder Hinsicht zu erweitern. So darf nicht einmal durch demokratischen Mehrheitsbeschluß · und schon gar nicht durch die Diktatur einer Minderheit - vorgeschrieben werden, wie gemalt, geschrieben, komponiert, erzogen, geforscht und geglaubt werden soll. Das alles fällt in die alleinige
Verantwortung der freien menschlichen Persönlichkeit.

Der reine Rechtsstaat muß das demokratische Prinzip im Sinne einer partizipatorischen Demokratie pennanent weiterentwickeln. Volksbegehren und Volksentscheid sind unverzichtbare Formen direktdemokratischer Kontrolle und Beteiligung der Bürger.

Das moderne Staatsleben ist jedoch zu differenziert, als daß in der Praxis alles und jedes durch Volksabstimmungen geregelt werden könnte. Daher ist zugleich das Repräsentativsystem weiter demokratisch auszugestalten. In Ost und West sind Formen zu entwickeln, die die Parlamente zu Organen der Bürger machen, in denen nach Sachkriterien über Gesetze debattiert wird. Parteien als Foren politischer Ideenbildung und Organe der gebündelten Vertretung von Interessen haben ihren legitimen Platz im politischen System. Es entspricht jedoch nicht den Prinzipien der Demokratie und der Gewaltenteilung, wenn personell und sachlich ausschließlich dasjenige im politischen Prozeß wirksam wird, was den Filter innerparteilicher Willensbildungsprozesse passiert hat. Und es entspricht ebensowenig diesen Prinzipien, wenn in
den Parlamenten jedes Ringen um sachlich richtige Lösungen von wahltaktisch motivierten Parteikämpfen überlagert wird.

In den ehemals staatssozialistischen Ländern genügt es daher nicht, das Monopol einer Partei durch das mehrerer zu ersetzen, sowenig westliche Formen der Parteiendemokratie als endgültige Formen demokratischer Entwicklung betrachtet werden dürfen. Die Gestaltungen des politischen Systems variieren selbstverständlich von Land zu Land. Jedoch sollte in allen Ländern das Wahlrecht so gestaltet werden, daß die einzelnen Bürger unabhängig von einer Parteimitgliedschaft unmittelbar auf die Kandidatenauswahl Einfluß nehmen und ihre Vorschläge im parlamentarischen System zur Geltung bringen können. Überparteiliche Bürgerforen müssen die Möglichkeit haben, sich an Wahlen zu beteiligen. Jede Form des Gewissenszwangs gegenüber den Abgeordneten, auch in Form des Fraktionszwangs, ist wirksam zu unterbinden.

Freiheitliches kulturelles Leben

Das Kulturleben kann nur gedeihen, wenn das Prinzip Individueller Initiative voll gewährleistet ist. Freiheit und Wettbewerb sind die notwendigen Voraussetzungen für die Entfaltung der Initiativkraft. Es ist eine Inkonsequenz des westlichen Freiheitsverständnisses, wenn dies nur für das unternehmerische Handeln anerkannt wird, in der Kulturverwaltung dagegen immer noch zentralistische Tendenzen dominieren. Sowenig man den freien Unternehmer als bloße Ergänzung einer staatlich gelenkten Wtrtschaft sehen darf, sowenig sollte die Schule und Hochschule in freier Trägerschaft als bloß geduldete Ausnahme in einer im Prinzip durch staatliche Kultusverwaltung geprägten Bildungslandschaft betrachtet werden dürfen.

Daß Einrichtungen in freier Trägerschaft weniger leisten als staatliche, ist eine durch nichts begründbare Behauptung vormundschaftlicher Instanzen. Das Gegenteil ist richtig: Wie soll verantwortliches Handeln in Einrichtungen erlernt
werden, für deren Leben die Lehrenden nicht die volle Verantwortung tragen?

Das Kulturleben kann weder unter der Vormundschaft des Staates noch in der Abhängigkeit von der Wirtschaft gedeihen. Je mehr es auf eigenen Füßen steht und sich selber verwaltet, je weniger es kommerzialisiert oder gleichgeschaltet ist, umso
kraftvoller können erneuernde Impulse aus ihm entspringen, die auch Staat und Wirtschaft befruchten. Ein solches Kulturleben wird bunt und vielfältig sein und zu einem wahrhaft pluralistischen europäischen Haus beitragen.

Das Gesagte gilt für Forschungsinstitute und Universitäten genauso wie für Kirchen und Weltanschauungsgemeinschaften, fiir Theater, Museen und Konzertsäle ebenso wie für Zeitschriften, Verlage, Rundfunk und Fernsehanstalten, für Krankenhäuser, Arztpraxen (Therapiefreiheit!) und Schulen. Einrichtungen in freier Trägerschaft dürfen finanziell nicht benachteiligt werden.

Gerade das Bildungswesen, das doch die Grundlage für alles Kulturleben bildet, braucht Freiheit und muß vor bildungsfremden Einflüssen geschützt werden. (1) Das Grundrecht des Kindes auf Bildung aller seiner Fähigkeiten muß bewahrt werden. Denn nur durch diese Fähigkeiten kann das soziale Geschehen immer wieder neu belebt werden, statt
im erreichten Zustand zu erstarren.

Freie Bildung hat auf der einen Seite zur Voraussetzung, daß jede Lehrerin und jeder Lehrer den Unterricht in kollegialem Zusammenwirken frei und in eigener Verantwortung gestalten kann, daß die Schule das Recht der Verwirklichung eigener
Bildungs- und Erziehungsziele besitzt und die Inhalte und Methoden des Unterrichts, das Miteinander sowie die Zusammensetzung der Lehrer- und Schülerschaft frei bestimmen kann. Sie muß sich selber verwalten dürfen. Die Eltern, auf der anderen Seite, müssen das Recht auf freie Wahl der Schule besitzen. Gründungsfreiheit und Freiheit der Trägerschaft sind zu gewährleisten. Die staatliche Schulaufsicht hat sich auf die Rechtsaufsicht zu beschränken; inhaltliche Kontrolle ist abzulehnen, auch die indirekte Kontrolle durch ein staatliches Prüfungswesen. Der freie Wettbewerb um das Ver(...) verschiedenen pädagogischen Richtungen, Lerninhalten und Lehrmethoden differenziertes Schulwesen fördern. Zugleich ist eine ausreichende und gleiche Finanzierung aller Schulen durch die Allgemeinheit zu gewährleisten, um den freien Zugang der Kinder ohne Rücksicht auf die Besitzverhältnisse der Eltern zu ermöglichen. Der von zahlreichen Experten vorgeschlagene Bildungsgutschein wäre dazu ein geeignetes Instrument.

In dem Maße, in dem sich die Einrichtungen des Kulturlebens von Staat und Wmschaft abnabeln, werden sich auch übergreifende Verwaltungsstrukturen bilden können, die für die Ordnung gemeinsamer Angelegenheiten des Kulturbereichs notwendig sind.

Bedarfsgerechte Ökonomie

Das Wirtschaftsleben wird umso besser gedeihen, je mehr es von staatlichem Einfluß frei ist und gleichzeitig weder Staat noch Kulturbereich für sich funktionalisiert.

Wirtschaft steht und fällt mit der Leistungsfähigkeit einer bedarfsgerechten Produktion. Was bedarfsgerecht ist, darüber haben vormundschaftliche Instanzen keine Stimme. Entscheidend ist hier vielmehr der Auftrag des Verbrauchers. Das Prinzip einer Kommandowirtschaft, die zum vermeintlichen Wohl des Volkes die konkreten Verbraucherwünsche ignorierte, den Unternehmensgeist fesselte und die Leistungsrelationen und das Kostenbewußtsein zerstörte, hat sich ad absurdum
geführt.

Verhängnisvoll und falsch wäre es jedoch, mit der notwendigen Abkehr von verfehlten Sozialismusmodellen zugleich auch notwendigen und zukunftsträchtigen Gedanken wie Kooperation, Solidarität und Partnerschaft in der Ökonomie abzuschwören. Denn die weltweite arbeitsteilige Verflechtung der heutigen Wtrtschaft führt dazu, daß wir alle immer mehr als füreinander Arbeitende aufeinander angewiesen sind. Ein wirtschaftlicher Verhaltensstil, der nur den eigenen und nicht den gegenseitigen Vorteil im Auge hat, wird damit immer mehr zu einem unheilvollen Anachronismus.

In der heutigen marktwirtschaftliehen Ordnung gibt es durchaus einen Handlungsbedarf für ein Mehr an Partnerschaft. Armut und Unterentwicklung, Arbeitslosigkeit und Umweltzerstörung dürfen nicht als unabwendbares Schicksal hingenommen werden.

In einem wirtschaftlich immer mehr zusammenwachsenden Europa ist die Wirtschaft konsequent an den Verbraucherbedürfnissen auszurichten. Die Preisverhältnisse müssen einen gesunden Leistungsausgleich ermöglichen und
dadurch Einkommen und Kaufkraft sichern. Das Wirtschaftsleben bedarf neuer Formen partnerschaftlich-sozialer Gestaltung.

Das heißt im einzelnen: Preise müssen frei kalkuliert und vereinbart werden können, ihre Indikatorfunktion ist zu erhalten. Zugleich muß die Möglichkeit bestehen, ungesunde wirtschaftliche Verhältnisse, die zu sozial und ökologisch ungesunden
Preisrelationen führen, durch die konzertierte Aktion der wirtschaftenden Menschen zu korrigieren. Diese Aufgabe erfordert zwingend, daß die Bewußtseinsorgane für betriebswirtschaftliche Kosten-Nutzen-Verhältnisse durch Organe einer
übergreifenden Bewußtseinsbildung ergänzt werden.

Diese Organe können sich nur aus der Erfahrung, dem Dialog und der "Assoziation der Betroffenen" (Produktion, Handel/Banken, Verbraucher) heraus bilden. Durch die Wahrnehmung von Interessen- und Lebenslagen kann so ein Interessenausgleich und soziales Vertrauen zustandekommen. Durch die Einbeziehung der Verbraucher werden Absprachen und vertragliche Gestaltungen möglich, gegen die beim Fehlen assoziativer Zusammenarbeit unter dem Gesichtspunkt des Verbraucherschutzes (Kartellrecht) mit Recht Einwände erhoben werden.

Das wirtschaftliche Leben braucht Angebotsvielfalt und fruchtbaren Wettstreit ebenso wie Interessenausgleich und Kooperation, die am Allgemeinwohl orientiert sind. Wieviel der spontanen Regulierung durch den Markt überlassen werden soll, wieviel Vorausschau und langfristige vertragliche Gestaltung notwendig ist: das ist nicht durch ökonomische Theorien,
sondern pragmatisch aus dem ökonomischen Leben heraus zu bestimmen. Besser als durch den Staat lassen sich Aufgaben, die einzelne Unternehmen, Branchen und Länder überfordern, aus solcher Kooperation heraus bewältigen. Nur so ist auch die Gesundung des (west)europäischen Agrarmarkts möglich, der gegenwärtig in durchaus staatssozialistisch-dirigistischer Weise geordnet ist.

Es gilt, die Marktwirtschaft in Richtung auf eine "assoziative Wirtschaft" hin weiterzuentwickeln. Nur so kann sie konsequent sozial gestaltet werden. Die ehemals staatssozialistischen Länder könnten wenigstens partiell dieses Ziel direkt ansteuern, ohne alle Aspekte der "westlichen" Marktwirtschaft mechanisch zu kopieren.

Die sozialen Sicherungssysteme sind weiterzuentwickeln. Diejenigen, die nicht in der Lage sind, durch eigene Leistungen zur Ertragskraft der Wirtschaft beizutragen (Kinder, Alte, Invalide et:c.), müssen aus den Erträgen der Wirtschaft mitunterhalten werden.

Die Möglichkeit, Gewinne zu erzielen, ohne am Leistungsprozeß teilzunehmen, widerspricht einer konsequenten Orientierung der Wirtschaft am Leistungsprinzip. Mechanismen, die eine Umverteilung von volkswirtschaftlichem Reichtum beispielsweise durch Spekulationsgewinne ermöglichen, sind daher stillzulegen. Ungerechtfertigte Vorteile dieser Art ergeben sich beispielsweise durch die Vermarktung des Rechts auf Bodennutzung und des Rechts auf die Verfügung über Produktionsmittel.

  • Die Formen des Unternehmenseigentums müssen die volle Unternehmerische Dispositionsfreiheit gewährleisten. Zugleich ist der Grundgedanke der Sozialpflichtigkeit des Eigentums konsequent anzuwenden. Anzustreben ist ein treuhänderisches Verfügungseigentum, das allein an die unternehmerische Tüchtigkeit gekoppelt ist; allen Mitarbeitern steht für die Dauer ihrer Tätigkeit ein "ideelles Miteigentum" zu.

    An die Stelle der Verkäuflichkeit der Unternehmen kann auf diese Weise nach und nach das Prinzip der rein personellen Übertragung der Verfügungsrechte aufgrund unternehmerrischer Kompetenz treten. Dieses personelle Prinzip ist auch für die Kreditvergabe anzuwenden.
  • Um Bodenspekulation zu unterbinden, ist das Prinzip der Unverkäullichkeit von Grund und Boden schrittweise zu verwirklichen. Das Bodeneigentum ist an die individuelle Nutzung oder die Bodenbewirtschaftung zu binden, für die Bodennutzung ist ein nach Lage und Ertrag gestaffelter Bodennutzungsausgleich an die Allgemeinheit zu entrichten. Der "Handwechsel" hat durch unbürokratische Übertragung - im Regelfall durch den Vornutzer - zu erfolgen.
  • Die Einkommenshöhe ist eine Frage vertraglich und demokratisch festzustellender Einkommensgerechtigkeit. Die Waren und Dienstleistungen produzierende Arbeit darf nicht selber zu einer Ware gemacht werden, wenn nicht die Leistungsbereitschaft eine bloße Funktion der Einkommenshöhe sein, sondern mitunternehmerische Verantwortung aller Mitarbeiter eines Unternehmens erreicht werden soll.

    Die konsequente Verwirklichung des Leistungsprinzips bedeutet auch, daß nicht die Leistung, sondern die Leistungsentnahme besteuert werden sollte. Eine europäische Steuerharmonisierung darf nur von diesem Prinzip ausgehen. Zu favorisieren wäre daher ein konsumorientiertes Steuersystem ("Ausgabensteuer "). Diese würde die lähmende Wirkung der Leistungsbesteuerung aufheben, und den Steuerhebel bei der Leistungsentnahme ansetzen, wobei die Steuersätze sozial gestaffelt werden können (geringe Besteuerung von Grundnahrungsmitteln, Mieten usw.), ohne daß die nivellierende Wirkung einer automatischen Progression einträte.

Der Umbruch und das Zusammenwachsen Europas

Lange sprach man westlich der Elbe von Europa, wenn man bloß Westeuropa meinte. Dieses Reden ist jetzt unmöglich geworden. Europa kann heute nicht mehr ohne den Osten gedacht werden. Dieser Osten will teilnehmen an der Integration und der unbeschränkten Zusammenarbeit ganz Europas. Und der Westen wird diesem Streben entgegenkommen müssen.

Europa ist aber nicht nur Osten und Westen, sondern auch die Mitte: Lange hat man über der Ost-West-Konfrontation jene Mitte Europas vergessen, zu der kulturell nicht allein die Deutschen, sondern genauso die Tschechen, Slowaken, Polen und
Ungarn gehören.

Europa braucht die eigenständigen Beiträge des Westens, des Osten und der Mitte gleichermaßen. In ihr liegt die Chance zur Vielfalt gesellschaftlicher Formen. Ein "verwestlichtes" Europa wäre nicht weniger einseitig als ein östlich geprägtes oder ein Europa, dessen Mitte Westen und Osten an den Rand zu drängen versuchte.

Das Thema der europäischen Mitte ist insofern besonders aktuell, als die Spaltung des Kontinents mit der Ausschaltung dieser Mitte verbunden war. Daher bringt die Überwindung der Spaltung die Frage nach der Aktivierung dieser Mitte mit sich.

Ihr gesamteuropäischer Beitrag kann nur ausgehen von der Weiterentwicklung der humanistischen Kulturtraditionen Mitteleuropas, das mehr noch als ein geographischer ein kultureller Begriff ist. Die Betonung der menschlichen Individualität, nirgendwo ist sie so betont worden wie im mitteleuropäischen Kulturkreis. Denn immer da, wo Mitteleuropa seinen Humanismus und Individualismus verleugnet hat, gab es sich selber auf und riß dadurch sich selbst und ganz Europa ins Unglück: Der nationalsozialistische Ungeist ist in der Mitte Europas entstanden als das Gegenteil des wahrhaft
mitteleuropäischen Denkens , wie es z.B. im Weimar der Goethe-Zeit gelebt hat.

Mitteleuropa: das ist die Idee eines Dialogs der Nationalkulturen, gleichermaßen fern von völkischem Ungeist wie von einer Auslöschung aller nationalkulturellen Vielfalt in einer bloß technisch-kommerziellen Weltzivilisation. Mitteleuropa: das
ist die Idee machtfreier Räume im Sinne von Györgi Konrads "Anti-Politik", von Räumen, die durch die Individualität gestaltet werden können. Mitteleuropa: das sind Ansätze zu einem ganzheitlich-ökologischen Denken, das die Natur in ihrer Lebendigkeit zu begreifen versucht, statt sie bloß in der Dimension ihrer technischen Ausbeutbarkeit zu verstehen. Mitteleuropa, das ist die Geburtsstätte der Idee von der Abschaffung des vormundschaftlichen Staates, der Idee eines Kulturlebens, das die allseitige harmonische Entfaltung der freien Persönlichkeit ermöglicht.

Ein Mitteleuropa, das hier anknüpft. könnte eine Brücke bilden zwischen dem Westen mit seiner entwickelten Intellektualität und seinen geformten Strukturen und dem slawischen Osten mit seinen noch unentbundenen Möglichkeiten. Es würde durch seine eigene Aktivierung die kulturelle Identität des Westens und des Ostens Europas stärken helfen.

Die Überwindung der Spaltung Europas ist nicht bloß eine äußere Frage. Sie ist immer auch die Frage nach der Überwindung jenes mittefeindlichen Blockdenkens, das falsche Alternativen zementiert und fruchtbare Synthesen durch eine unfruchtbare Ost-West-Konfrontation verhindert hat.

Auf dem Weg zum gemeinsamen europäischen Haus

Der Abbau der Schranken, die der vollen Freizügigkeit in Europa entgegenstehen, ist eine Notwendigkeit der Zeit. Dieser Abbau muß den Grenzen ihre trennende Bedeutung nehmen und sie auf bloße Verwaltungsgrenzen reduzieren. Soweit der
europäische Binnenmarkt diesen Zielen dienen kann, wird jeder Vernünftige ihn begrüßen. Soweit europäische Integrationsprozesse dem Frieden dienen und die Feindschaft zwischen Nationen und Staaten für die Zukunft ausschließen, wird jeder diese Prozesse fördern wollen.

Das gemeinsame europäische Haus darf jedoch nicht auf jene Prinzipien begründet werden, deren Lebensfeindlichkeit sich in der Vergangenheit allzu deutlich offenbart hat. Es kann nicht auf dem Prinzip der staatlichen Macht beruhen, die sich Kultur und Wirtschaft unterordnet. Es muß ein Europa der Menschen werden, nicht ein Europa, das im Interesse wirtschaftlicher Machtentfaltung bürokratisch vereinheitlicht und reglementiert ist. Das neue Europa muß mehr möglich machen als nur den freien Fluß der Waren und Geldströme. Es kann nicht ohne zündende Ideen gestaltet werden. Es wird bestimmt sein müssen von dem großen Ideal eines Kulturraums, der sein Erbe gemeinsam verwalten und neue Kulturimpulse ermöglichen soll.

Die europäische Integration kann nur heilsam wirken, wenn sie die notwendige Autonomie sowohl der Lebenssphären der Gesellschaft insgesamt als auch die Eigenständigkeit der Regionen und der Völker beachtet. Das neue Europa ist nur möglich als Dialog der Kulturen. Es wird pluralistisch, polizentristisch und föderalistisch sein, oder es wird nicht sein.

Der alte Völkerbund hat die Unmöglichkeit einer Integration unter rein politischen Gesichtspunkten, der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) die Unmöglichkeit einer Integration unter hauptsächlich ideologischen Gesichtspunkten gezeigt, die EG demonstriert die Grenzen einer hauptsächlich wirtschaftlichen Integration. Notwendig ist die Integration auf drei voneinander relativ unabhängigen Ebenen: auf der Ebene eines europäischen Wirtschaftsraums, auf der Ebene der Zusammenarbeit im Bereich von Recht und Verwaltung und auf der Ebene des freien kulturellen Austauschs und Zusammenwirkens.

Die Vereinigten Staaten von Europa, der vormundschaftliche Staat und das Demokratieproblem

Nach dem Epochenjahr 1989 kann nicht einfach zur Tagesordnung übergegangen werden. Vielmehr ist das Konzept der politischen Union in gesamteuropäischer Perspektive und unter Beteiligung aller europäischen Regionen zu überarbeiten.

Die neuen staatlichen Strukturen sind konsequent dezentralistisch zu gestalten. D. h. die europäischen staatlichen Institutionen haben weder zu regeln, was unmittelbar Betroffene ohne den Staat in die Hand nehmen können, noch dürfen sie Entscheidungen, die besser und bürgernäher von regionalen staatlichen Instanzen getroffen werden können, an sich ziehen. Es muß verhindert werden, daß die gemeinsamen Institutionen Undurchschaubarkeit des Verwaltungshandelns, Bürgerferne und mangelnde demokratische Kontrolle mit sich bringen.

Die Vereinigten Staaten von Europa dürfen kein supranationaler Mammutstaat sein, in dem immer mehr die Bürokratie zum allein tätigen Element wird. Sie sollten vielmehr einen Bund bilden, der auf konföderativen Strukturen beruht. Das Konzept eines Staatenbundes schafft unmittelbar die Form, die es den ost- und ostmitteleuropäischen Ländern ermöglicht, an der europäischen Integration auf staatlicher Ebene teilzunehmen. Die Mitgliedschaft im europäischen Bund muß mit der Mitgliedschaft in anderen supranationalen Zusammenschlüssen vereinbar sein. Auf diesem Weg kann über den Funktionswandel der militärischen Bündnisse die Auflösung der Blöcke erreicht werden. Im Rahmen des KSZE-Prozesses kann ein neuer politischer Mechanismus der Sicherheitspartnerschaft, der auf der Abrüstung im Sinne struktureller Nichtangriffsfähigkeit beruht, entstehen.

Der europäische Staatenbund würde nur in dem Maße Völkerrechtssubjekt sein, in dem die einzelnen Staaten und Regionen gemeinsame zu lösende Aufgaben an ihn übertragen, wobei diese Übertragung immer nur eine befristete wird sein
dürfen. Seine gemeinsamen Organe sind konsequent demokratisch an den Bürgerwillen zu binden. Das schließt das Recht auf direkt-demokratische Mitentscheidung auch der gemeinsamen europäischen Angelegenheiten ein.

Ein europäisches Parlament wird die Exekutive wählen und kontrollieren und ein europäisches Verfassungsgericht wird nicht durch Ausfüllung von Rechtslücken de facto verfassunggebend wirken dürfen, sondern die Rolle einer Appellationsinstanz bei Grund und Menschenrechtsverletzungen spielen müssen.

Nicht Verordnungen über alles und jedes braucht Europa, sondern gemeinsame Anstrengungen zur umfassenden Verwirklichung der Grund- und Menschenrechte, um jeder obrigkeitsstaatlichen Tendenz einen Riegel vorzuschieben. Das Scheitern des Staatssozialismus hat gezeigt, wohin es führt, wenn anstelle der unmittelbar Betroffenen Bürokraten vom Reißbrett aus gesellschaftliche Entwicklung dirigieren wollen. Selbst wenn man den 12.000 Bürokraten in Brüssel die subjektiv besten Absichten unterstellt - allein die Eigendynamik der kontinuierlichen Arbeit an neuen Richtlinien und
Standards bringt die Gefahr mit sich, daß auf diese Weise neue Vormundschaft programmiert wird. Ja zu Freiheit und vollständiger Freizügigkeit! Nein jedoch zu jeglicher Selbstzweckhaft wuchernden Reglementierungsmanie.

Wirtschaftsraum Europa, ja! Doch muß verhindert werden, daß der Wettbewerb um die besten Angebote für den Verbraucher durch den Wettbewerb der Lobbies in Brüssel um Subventionen ersetzt wird und so einseitige Vorteile entstehen.

Erreichte Freiräume, soziale und demokratische Errungenschaften dürfen nicht durch zentralistisch verordnete schlechtere Standards verengt, fortschrittliche regionale Lösungen, besonders auch auf dem Feld des Umweltschutzes, dürfen nicht unter Hinweis auf notwendige europaeinheitliche Lösungen blockiert werden.

Europäische Integration, Kulturfreiheit und wirtschaftliche Kooperation

Im vereinten Europa muß die Freiheit der Kultur umfassend gesichert sein. D.h. den im Kulturleben tätigen Menschen und Einrichtungen ist die Gestaltung ihrer Beziehungen im europäischen Haus selber zu überlassen. Die gemeinsamen Angelegenheiten des Kulturlebens sollten von gesamteuropäischen Kulturforen in eigener Regie geregelt werden. Auf der anderen Seite müssen sich die wirtschaftlichen Beziehungen frei von staatlicher Reglementierung entwickeln können; die Rahmenbedingungen für diese Beziehungen müssen immer mehr von sich bildenden assoziativen europäischen Wirtschaftsorganen gesetzt werden.

Diese Organe haben insbesondere zu verhindern, daß die Ungleichgewichte zwischen West- und Osteuropa zu wirtschaftlicher Ausbeutung des europäischen Ostens führen. Nur als immer mehr aufblühender - von Beziehungen gegenseitigen Vorteils geprägter Wirtschaftsraum - kann Europa gedeihen und zur Beseitigung der Probleme der Unterentwicklung in der ganzen Welt beitragen.

Neugliederung und ökologische Verantwortung

Die Überwindung der unfruchtbaren Ost-West-Konfrontation gibt uns die historisch einmalige Chance, unsere Kräfte den menschheitsbedrohenden Problemen zu widmen, deren Lösung unaufschiebbar geworden ist. Die Wucht dieser Probleme verträgt kein ideenloses und kurzatmiges Agieren. Eine freiheitliche Lösung des Ökologieproblems ist nicht allein durch staatliche Maßnahmen zu erreichen. Sie bedarf vielmehr der Entwicklung gesellschaftlicher Strukturen, die selbsttätige ökologische Vernunft fördern helfen.

Ökologische Vernunft findet nur da ein Feld der Verwirklichung, wo aus drei Quellen ökologische Impulse in das soziale Geschehen einströmen: aus einem freien selbstverwalteten Geistesleben, in dem ein neues Denken über die Natur und den
Sinn des menschlichen Lebens entstehen kann, einem sachorientierten politischen Leben, das rechtsstaatliche Instrumente schafft, die stark genug sind, der ökologischen Unvernunft Grenzen zu setzen, und einer Ökonomie, die Umweltverträglichkeit und Umweltverantwortlichkeit realisiert, statt Schadensfolgen auf die Allgemeinheit abzuwälzen.

Die Neugliederung der Gesellschaft ist die Antwort auf dieses Problem.

Europäisches Haus, Selbstbestimmungsrecht, Einheit der Deutschen, deutsche Verfassung

Jedes europäische Volk muß das Recht haben, die eigene Kultur und Sprache in freier Selbstbestimmung zu pflegen und zu entwlckeln. Die Basis des Selbstbestimmungsrechts sind die Individualrechte des Menschen auf Eigeninitiative und Mitentscheidung. Durch vollständige nationalkulturelle Autonomie und die Reduktion der Grenzen auf bloße Verwaltungsgrenzen ohne trennende Bedeutung verlieren die Grenz- und Territorialfragen ihre Bedeutung. Indem jede Diskriminierung nationaler Minderheiten aufhört, kann das Prinzip nationaler Autonomie mit dem der Garantie gewachsener territorialer Zusammenhänge verbunden werden. Aus historischen Gründen ist dabei die uneingeschränkte Garantie der polnischen Westgrenze von besonderer Bedeutung.

Die Überwindung der Spaltung bedeutet auch das Ende der künstlichen Trennung der Deutschen. Die Nachbarn Deutschlands haben jedoch nicht vergessen, daß die menschenfeindliche Perversion des Staatsgedankens im Nationalsozialismus zum Zweiten Weltkrieg geführt und damit die Ausgangslage für die Spaltung herbeigeführt hat. Daher darf es im Herzen eines Europa, welches das Machtprinzip abbaut, niemals wieder einen Machtstaat geben.

Die Vereinigung der Deutschen wird deshalb keine Wiedervereinigung sein können. Wie sie ihre Einheit erreichen, das werden die Deutschen in der BRD und der DDR selber entscheiden müssen. Ein deutscher Alleingang ist jedoch abzulehnen, vielmehr sollten alle Schritte in einem europäischen Kontext herrachtet werden. Die Deutschen stehen
in einer besonderen geschichtlichen Verantwortung für die Überwindung des Prinzips staatlicher Vormundschaft. Die Frage lautet also nicht einfach, ob die Deutschen einen Staat haben, sondern wieviel Staat sie überhaupt haben werden.

Jede deutsche Verfassung muß ausgehen von der Bindung des Staates an die Sicherung der Würde des Menschen. Sie muß konsequent föderalistisch sein und auf einer starken Rolle der Länder basieren. Sie muß umfassende Freiheit des Kulturbereichs gewährleisten und Staat und Wirtschaft entflechten. Durch eine solche Neugliederung kann nicht nur die fortschrittlichste Verfassung der deutschen Geschichte entstehen, sondern auch den Nachbarn jede Angst vor einer Wiederholung der Geschichte genommen werden.

Dialog und Zusammenwirken im gesamteuropäischen Maßstab - Das Prinzip Verantwortung

Die Positionen des Aufrufs werden von Menschen unterstützt, die selber Verantwortung übemehmen wollen für die Weiterentwicklung der Verhältnisse, statt aus vorgefaßten Ansprüchen Forderungen an andere abzuleiten. Viele haben bereits in der Vergangenheit praktisch versucht, zukunftsorientierte Sozialformen zu veranlagen und zu entwickeln. Sie haben z.B. in selbstverwalteten Schulen gearbeitet, die eine Pädagogik nur vom Kinde her betreiben. Sie sind tätig in alternativen Krankenhäusern und pharmazeutischen Betrieben. Sie wirken in ökologisch orientierten landwirtschaftlichen Einrichtungen, die sich die Pflege und Heilung der Erde im Interesse des Verbrauchers zur Aufgabe gemacht haben. Sie versuchen, in neuartigen Bankeinrichtungen und Unternehmenszusammenschlüssen Formen einer sinnvollen Kooperation im Wirtschaftsleben zu praktizieren. Es sind Menschen, die sich bemühen, in selbstverwalteten Kulturzentren und künstlerischen Einrichtungen ein freies geistiges Leben zu entwickeln. Menschen, die sich in der Praxis einsetzen für ein freies Medienwesen oder für neue Formen einer dialogischen politischen Kultur.

Das neue Europa muß von unten wachsen, es bedarf einer Kultur, die auf der Kraft der gesellschaftlich geschützten Individualität beruht. Nur aus dem Zusammenwirken der freien Einzelnen kann sich das Potential der Veränderung bilden. An vielen "runden Tischen" muß der Dialog über die notwendigen Schritte über weltanschauliche und politische Grenzen hinweg geführt werden. Alle Menschen, die in den Zielen des Manifests für Europa etwas Berechtigtes sehen können, sind aufgerufen, an diesem Dialog teilzunehmen. So kann ein Netzwerk für ein neues Europa entstehen.

Wachstum von unten bedeutet nicht, daß die Erneuerungsbewegung nicht politisch wirksam werden kann! Vielmehr ist sie berufen, zur Herausbildung einer neuen politischen Kultur in Europa beizutragen. So könnte sie dazu beitragen, bei Wahlen und Abstimmungen auf allen Ebenen die entscheidenden Sachfragen gegenüber parteipolitisch und ideologisch bedingten Scheinalternativen zur Geltung zu bringen.

Das Wirken für Europa darf nicht auf Programme oder Ideologien gestellt sein, sondern einzig und allein auf die sozial gestaltende Kraft der menschlichen Individualität.

Diese menschliche Individualität erträgt heute keinerlei Bevormundung mehr. Setzen wir uns daher gemeinsam ein für ein Europa, in dem die kulturgestaltende Kraft dieser menschlichen Individualität in voller Freiheit wirken kann, in dem alles Staatshandeln an das Recht gebunden ist, welches durch den demokratischen Konsens der mündigen Menschen wirksam wird. Setzen wir uns ein für ein Europa, in dem die wirtschaftenden Menschen ohne staatliche Einmischung für die Befriedigung ihrer vielfältigen Bedürfnisse sinnvoll kooperieren können!

Fußnoten

1 Die Entschließung des europäischen Parlaments zum Recht der freien Schulen vom 14. März 1984 ist voll zu verwirklichen und weiter zu entwickeln.