„Sein oder Nichtsein“
Die anthroposophische Dreigliederungsbewegung an der Schwelle zum neuen Jahrtausend –10 Thesen zum überfälligen öffentlichen Aufbruch der anthroposophischen Bewegung in eine soziale Zukunft
1. Die Existenzfrage der anthroposophischen Gesellschaft und der Menschheit ist und bleibt schicksalhaft verknüpft mit der baldigen praktischen Verwirklichung des sozialen Dreigliederungsimpulses in aller Öffentlichkeit.
Die soziale Dreigliederung vorzunehmen ist eine öffentliche, „und zwar die wichtigste Aufgabe der gegenwärtigen und nächst zukünftigen Menschheit“, damit diese überhaupt weiterbestehen kann (Rudolf Steiner am 19. Oktober 1919). Dafür ist nicht noch einmal 80 Jahre Zeit angesichts des immer größer
werdenden sozialen Chaos der Gegenwart. Mehr denn je ist die heutige Politik in Europa und weltweit unübersehbar in den Materialismus gebannt. Die
Staaten bekommen im Sozialen nichts mehr geregelt und die Parteiendemokratie ist am Ende. In der Wirtschaft wird so lange Konkurrenzkampf betrieben, bis es am Ende nur noch Verlierer und keine Gewinner mehr gibt. Die Entwicklung der Menschheit geht nur weiter, wenn wir uns nicht mit den bestehenden Verhältnissen arrangieren, sondern wenn wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine überlebensnotwendige weltweite soziale Bewegung öffentlich ins Leben rufen, die diesen Namen verdient. Die aufeinanderprallenden Menschen sehnen sich nach neuen sozialen Ideen und Begriffen, nach Wahrheiten und geistigen Impulsen für das soziale Zusammenleben in menschlicher Würde.
2. Ohne die Verwirklichung des Dreigliederungsimpulses als dem wichtigsten christlichen Erdenimpuls gibt es keinen Kulturfortschritt, keine soziale Erneuerung und keine Geistesfreiheit – und damit auch keinen Fortbestand der anthroposophischen Gesellschaft, die ja kein Selbstzweck ist.
Soziale Dreigliederung ist gelebte Anthroposophie und insoweit eine schicksalsträchtige Bewährungsprobe für die anthroposophische Gesellschaft an der
Jahrtausendschwelle.
Das Schicksal des Dreigliederungsimpulses und dasjenige der anthroposophischen Gesellschaft sind auf Gedeih und Verderb miteinander verflochten. Die
anthroposophische Bewegung in Mitteleuropa kann sich nicht weiterhin das „sektiererisch Schläfrige“ gönnen, anstatt die weltgeschichtliche Bedeutung der Anthroposophie wirklich ins Auge zu fassen. Das Verharren im Traditionellen wird uns nicht gestattet, wenn wir uns zum sozialen Engagement anspornen lassen wollen, um dem sozialen und kulturellen Fortschritt zu dienen.
3. Eine wirklich gewollte Erneuerung des kranken sozialen Organismus verträgt sich nicht mit der immer noch vorzufindenden Abneigung sogenannter Anthroposophen gegen eine politische Tätigkeit und öffentliche Einmischung.
Denn das Geistige muss gerade auch in das Politische übergreifen, in eine Politik als soziale Kunst, daran ließ Rudolf Steiner keinen Zweifel. Herbe öffentliche Kritik an den bestehenden Verhältnissen, die von Lüge, Unmoral und Unwahrhaftigkeit durchsetzt sind, ist zudem vonnöten. Die Menschheit dürstet nach spirituellen Impulsen für das soziale Wirken, um nicht noch tiefer in den Materialismus gebannt zu werden. Die in der Außenwelt oft als eine Art Sekte wahrgenommene Anthroposophische Gesellschaft kann aber nicht missionarisch oder elitär auf die Menschen einwirken, sondern Anthroposophen müssen sich an allen Brennpunkten des sozialen Geschehens in das äußere Leben hineinstellen, um in allen öffentlichen Betätigungsfeldern urteils- und handlungsfähig sowie bündnisfähig zu werden.
4. Wir brauchen keine soziale Dreigliederungsbewegung neben oder innerhalb der anthroposophischen Bewegung, sondern die gesamte anthroposophische Bewegung mit ihren Einrichtungen muss sich jetzt vorrangig dazu aufraffen, mit allen vereinten Kräften als weltweite Dreigliederungsbewegung aufzubrechen.
Diese Aufgabe gehört längst in den Mittelpunkt aller Bestrebungen der anthroposophischen Gesellschaft als deren gegenwärtige Hauptaufgabe und Daseinszweck auf Erden. Andere Aufgaben und persönliche Interessen und Neigungen sind für die nächste Zeit hinten anzustellen. Die soziale Dreigliederung kann nicht nur nebenbei, neben vielen anderen „wichtigen und gleichberechtigten Aufgaben“ als Minderheitenthema betrieben werden, sondern ist als gegenwärtige zentrale Hauptaufgabe voranzutreiben. Die unbequemen Wahrheiten der sozialen Dreigliederung müssen vor allem immer mehr öffentlich gemacht werden.
5. Es bedarf des entschlossenen, ernsthaften und aufrichtigen Bestrebens, die Dreigliederung in der größeren sozialen Welt zur Realität zu bringen, und zwar in Zusammenarbeit und Gemeinschaft mit Mitstreitern außerhalb der anthroposophischen Bewegung.
Das soziale Leben kann nur in der richtigen Gemeinschaft, also nicht in der Abgeschiedenheit und Abgeschlossenheit der anthroposophischen Einrichtungen und in kleinen internen Zirkeln entwickelt werden. Eine aktive Vernetzung mit anderen sozial gesinnten Menschen und Weltbürgern ist anzustreben, über den engeren anthroposophischen Umkreis hinaus, indem auf diese Weise Esoterik und größtmögliche Öffentlichkeit miteinander verbunden werden als Kernaufgabe der anthroposophischen Gesellschaft. Die soziale Dreigliederung lässt sich nicht tatenlos herbeimeditieren.
6. Die arbeits-, kraft- und zeitaufwendige Fixierung bloß auf das interne anthroposophische Gesellschaftsleben und die Konstitutionsdebatte darf nicht ablenken und abhalten von der eigentlichen äußeren Arbeit für eine soziale Zukunft der Menschheit.
Die Menschheit ist weit weg von alledem, was jetzt im sozialen Leben gefordert ist. Aber auch viele Anthroposophen und ihre Gesellschaftsstrukturen und Arbeitsweisen sind davon weit entfernt. Die Gedanken und Betätigungen der Menschen hören gerade da auf, wo sie am intensivsten werden sollten, nämlich wo sie sich auf die großen Schicksals- und Menschheitsfragen beziehen müssten. Die Beschäftigung mit sich selber kann nicht zur Selbstfindung führen, sondern vonnöten ist dazu der Blick und Schritt in die Welt, um hier das geistige und Menschliche zu erfahren, in Gemeinschaft zu praktizieren und zu gestalten.
7. Anthroposophie ist nicht dazu da, um durch „mystische Schwarmgeisterei“ in den höchsten Höhen zu schweben – in dem Glauben, einer höheren Sache zu dienen – sondern sie soll tatkräftig in die Intentionen der sozialen Gegenwart hineinführen und zum Eingreifen in die äußere soziale Welt veranlassen und befähigen.
Im Erdenleben ist laut Rudolf Steiner dasjenige, was die Menschen in ihrem sozialen Zusammenhang durchmachen, menschliches Geistesleben, geistiges Leben. Alles Üben im Bereich des Denkens, Fühlens und Wollens, des Meditierens, des biografischen Forschens, der Gesprächsarbeit und Seelenpflege, der Erkenntnisarbeit und des religiösen und künstlerischen Erlebens – im Bereich der Eurythmie, des Plastizierens, Musizierens und Malens usw. – dient nicht der Erbauung, Unterhaltung und dem Zeitvertreib oder der egoistischen Selbstverwirklichung, sondern ausschließlich als persönlichkeitsbildende Vorübung zur Heranbildung sozialer Fähigkeiten für die höchste aller Künste und geistigste Stufe auf Erden, nämlich für die aus dem Willen wirkende soziale Kunst des Eingreifens in die äußere materielle und soziale Welt als das Ergreifen von Geist in der Materie. Mit geistigen Weisheiten tragen wir noch keine Moralität auf den physischen Plan, sondern nur mit sozialen Betätigungen.
8. Die anthroposophische Gesellschaft muss sich von einer Gesinnungsgemeinschaft und Erkenntnisgesellschaft zu einer handlungsorientierten Willensgemeinschaft wandeln, mit Mut zu sozialem Engagement draußen in der Welt, außerhalb der eigenen Subkultur.
Eine angestrebte soziale Menschheitszukunft braucht ganz andere Willenskräfte, als sie zur Zeit in das öffentliche Leben hineingetragen werden. Geistige
Erkenntnisse haben nur dann einen Wert, wenn man mit ihnen untertaucht in das öffentliche soziale Leben der Menschengemeinschaft an allen Schauplätzen und sozialen Brennpunkten. Geist-Erkenntnis und Geist-Erleben offenbaren sich in sozialen Willensakten als geistige Erfahrungen. In diesem Sinne muss sich die anthroposophische Gesellschaft nach außen „umstülpen“, um draußen in der Welt dem Ich der Menschen und der Menschheit zu begegnen. Nicht die Verhältnisse sind schuld, dass die soziale Dreigliederung noch nicht weiter ist, sondern die anthroposophisch orientierten Menschen mit ihrem fehlenden Mut und Willen zur ernsthaften Auseinandersetzung in aller Öffentlichkeit um den sozialen Zukunftsweg der Menschheit.
9. Anthroposophie ohne Dreigliederung ist ebenso wenig möglich wie Dreigliederung ohne Anthroposophie.
Die größtmögliche Kulmination der Anthroposophie zur Jahrtausendwende darf nicht ausbleiben wegen des fehlenden Mutes und Willens zur Dreigliederung und der geringen Anzahl an ernsthaften Mitstreitern mit sozialen Kompetenzen. Die Dreigliederungsidee schöpft aus anthroposophischen Quellen, weil ohne sie an politischen Grundsätzen, sozialen Strukturen und Ideen nur Nichtigkeiten zutage gefördert würden. Das normale Denken, das uns befähigt, über den äußeren Verlauf der Sinneswelt nachzudenken, lässt sich nicht ohne weiteres auch anwenden, um soziale Gesetze und Impulse zu finden und diese praxistauglich umzuformen. Spirituelle Impulse für das soziale Wirken sind eine „Abschlagszahlung auf die zerstörerischen Kräfte“ (Rudolf Steiner).
10. Die Waldorfschulbewegung muss sich nach innen und außen konsequent in den Dienst der sozialen Dreigliederung stellen, wenn sie auch in Zukunft eine Daseinsberechtigung haben soll.
Ohne die soziale Dreigliederung haben die Kinder keine Zukunft und die Waldorfschulen keinen Bestand, keinen Erfolg und keine Daseinsberechtigung
mehr. Die Daseinsberechtigung der anthroposophischen Einrichtungen leitet sich aus ihren sozialen Menschheitsaufgaben ab. Die Waldorfschulen sind
ein „Kind der sozialen Dreigliederung“ und dieser kompromisslos verpflichtet.