Aus gegebenem Anlass

Das Institut für soziale Gegenwartsfragen in Stuttgart hat es sich seit seiner Gründung 1991 zur Aufgabe gemacht, aktuelle soziale und gesellschaftliche Debatten zu untersuchen und die mit dem Begriff der „Dreigliederung des sozialen Organismus“ verbundenen Erneuerungsimpulse fortzuschreiben. Die Ergebnisse wurden und werden der interessierten Öffentlichkeit immer frei zur Verfügung gestellt. Das Institut erhält in letzter Zeit vermehrt Anfragen, in der sogenannten „Corona-Protestbewegung“ beratend aktiv zu werden. In den letzten Tagen ging es vor allem um eine „verfassungsgebende Versammlung“, die vom Institut beratend unterstützt werden soll.

Wir halten ein solches Verfassungsgebungsverfahren für nicht legitim. Auch scheint bis jetzt ein Aufruf dazu nicht in einer Form veröffentlicht zu sein, die eine Auseinandersetzung überhaupt möglich macht. Grundsätzlich haben Gerüchte, die in verschiedenen sozialen Medien im Umfeld der Corona-Protestbewegung verbreitet werden, für uns keine Relevanz. Wir raten zu äußerster Vorsicht im Umgang mit diesen „Meldungen“, da sich in der Corona-Protestbewegung rechtsextreme Kräfte betätigen, welche den Protesten regressive und umstürzlerische Inhalte überstülpen wollen. Wir können nicht ausschließen, halten es im Gegenteil sogar für sehr wahrscheinlich, dass das Projekt „Verfassungsgebende Versammlung“ Teil einer solchen inszenierten „Volksbewegung“ sein soll.

Wir sehen keinen Anlass, einen „Verfassungsgebungsprozess“ zu starten oder den „sofortigen Rücktritt der gesamten Regierung“ zu fordern. Wir sind auch nicht der Ansicht, dass „alle Corona-Maßnahmen sofort beendet werden“ müssen. Wir befürworten stattdessen eine differenzierte Debatte mit allen relevanten Gruppen und Personen über die gegenwärtige Situation und wie wir als Gesellschaft weiter damit umgehen können. Der unten verlinkte Offene Brief aus der Zivilgesellschaft ist für uns ein Beispiel einer Initiative, die der Gesellschaft insgesamt zu einer neuen Sprechfähigkeit über die Corona-Politik verhelfen könnte.

Solange die diversen Grüppchen und Menschen in und um diese neuartige Protestbewegung sich nicht proaktiv und deutlich erkennbar von Rechtsextremisten abgrenzen und diese stattdessen dadurch aufwerten, dass sie ihnen eine Bühne für ihre Hassparolen bieten wie zuletzt in Berlin am 29. August 2020, werden wir uns in keinerlei Weise an einer Beratung oder gar Mitarbeit bei dieser Art von Projekten beteiligen. Wir sind davon überzeugt, dass diese Bewegung, so wie sie sich gegenwärtig zeigt, große Gefahren mit sich bringt.

Zu glauben, man könne durch eine Teilnahme sozialer Erneuerung im Sinne der Dreigliederung des sozialen Organismus oder der Anthroposophie zu öffentlicher Anerkennung verhelfen, erscheint uns als Wunschdenken. Eine äußerst wachsame Haltung gegenüber dieser Bewegung einzunehmen und Rechtsextremismus konsequent entgegenzutreten, legen wir deshalb denen nahe, die sich wie wir den Ideen Rudolf Steiners im Allgemeinen und der Dreigliederung des sozialen Organismus im Besonderen verbunden fühlen.

Würden wir an einer solchen Bewegung teilnehmen, drohte noch die zusätzliche Gefahr, dass in der öffentlichen Wahrnehmung der gesamte Ansatz zur sozialen Erneuerung, der mit Rudolf Steiners Lebenswerk verbunden ist, verstärkt mit rechts-esoterischem Gedankengut in Verbindung gebracht würde. Dies wäre eine äußerst schwere Hypothek für die Zukunft dieses wichtigen Erneuerungsimpulses.

Stuttgart, 7. September 2020

André Bleicher, Udo Herrmannstorfer, Stefan Padberg, Christoph Strawe